Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Absch. Von der log. Function in Urtheilen.
abzuweichen scheint, so werden folgende Verwahrungen
wider den besorglichen Misverstand nicht unnöthig seyn.

1. Die Logiker sagen mit Recht, daß man beym Ge-
brauch der Urtheile in Vernunftschlüssen die einzelne Ur-
theile gleich den allgemeinen behandeln könne. Denn eben
darum, weil sie gar keinen Umfang haben, kan das Prä-
dicat derselben nicht blos auf einiges dessen, was unter
dem Begriff des Subiects enthalten ist, gezogen, von ei-
nigem aber ausgenommen werden. Es gilt also von ienem
Begriffe ohne Ausnahme, gleich als wenn derselbe ein ge-
meingültiger Begriff wäre, der einen Umfang hätte, von
dessen ganzer Bedeutung das Prädicat gelte. Vergleichen
wir dagegen ein einzelnes Urtheil mit einem gemeingültigen,
blos als Erkentniß, der Grösse nach, so verhält sie sich zu
diesem, wie Einheit zur Unendlichkeit, und ist also an
sich selbst davon wesentlich unterschieden. Also, wenn
ich ein einzelnes Urtheil (iudicium singulare), nicht blos
nach seiner innern Gültigkeit, sondern auch, als Erkent-
niß überhaupt, nach der Grösse, die es in Vergleichung
mit andern Erkentnissen hat, schätze, so ist es allerdings
von gemeingültigen Urtheilen (iudicia communia) un-
terschieden, und verdient in einer vollständigen Tafel der
Momente des Denkens überhaupt (obzwar freilich nicht in
der, blos auf den Gebrauch der Urtheile untereinander einge-
schränkten Logik) eine besondere Stelle.

2. Eben so müssen in einer transsendentalen Logik
unendliche Urtheile von beiahenden noch unterschieden

wer-
E 4

II. Abſch. Von der log. Function in Urtheilen.
abzuweichen ſcheint, ſo werden folgende Verwahrungen
wider den beſorglichen Misverſtand nicht unnoͤthig ſeyn.

1. Die Logiker ſagen mit Recht, daß man beym Ge-
brauch der Urtheile in Vernunftſchluͤſſen die einzelne Ur-
theile gleich den allgemeinen behandeln koͤnne. Denn eben
darum, weil ſie gar keinen Umfang haben, kan das Praͤ-
dicat derſelben nicht blos auf einiges deſſen, was unter
dem Begriff des Subiects enthalten iſt, gezogen, von ei-
nigem aber ausgenommen werden. Es gilt alſo von ienem
Begriffe ohne Ausnahme, gleich als wenn derſelbe ein ge-
meinguͤltiger Begriff waͤre, der einen Umfang haͤtte, von
deſſen ganzer Bedeutung das Praͤdicat gelte. Vergleichen
wir dagegen ein einzelnes Urtheil mit einem gemeinguͤltigen,
blos als Erkentniß, der Groͤſſe nach, ſo verhaͤlt ſie ſich zu
dieſem, wie Einheit zur Unendlichkeit, und iſt alſo an
ſich ſelbſt davon weſentlich unterſchieden. Alſo, wenn
ich ein einzelnes Urtheil (iudicium ſingulare), nicht blos
nach ſeiner innern Guͤltigkeit, ſondern auch, als Erkent-
niß uͤberhaupt, nach der Groͤſſe, die es in Vergleichung
mit andern Erkentniſſen hat, ſchaͤtze, ſo iſt es allerdings
von gemeinguͤltigen Urtheilen (iudicia communia) un-
terſchieden, und verdient in einer vollſtaͤndigen Tafel der
Momente des Denkens uͤberhaupt (obzwar freilich nicht in
der, blos auf den Gebrauch der Urtheile untereinander einge-
ſchraͤnkten Logik) eine beſondere Stelle.

2. Eben ſo muͤſſen in einer transſendentalen Logik
unendliche Urtheile von beiahenden noch unterſchieden

wer-
E 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0101" n="71"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ab&#x017F;ch. Von der log. Function in Urtheilen.</fw><lb/>
abzuweichen &#x017F;cheint, &#x017F;o werden folgende Verwahrungen<lb/>
wider den be&#x017F;orglichen Misver&#x017F;tand nicht unno&#x0364;thig &#x017F;eyn.</p><lb/>
                  <p>1. Die Logiker &#x017F;agen mit Recht, daß man beym Ge-<lb/>
brauch der Urtheile in Vernunft&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die einzelne Ur-<lb/>
theile gleich den allgemeinen behandeln ko&#x0364;nne. Denn eben<lb/>
darum, weil &#x017F;ie gar keinen Umfang haben, kan das Pra&#x0364;-<lb/>
dicat der&#x017F;elben nicht blos auf einiges de&#x017F;&#x017F;en, was unter<lb/>
dem Begriff des Subiects enthalten i&#x017F;t, gezogen, von ei-<lb/>
nigem aber ausgenommen werden. Es gilt al&#x017F;o von ienem<lb/>
Begriffe ohne Ausnahme, gleich als wenn der&#x017F;elbe ein ge-<lb/>
meingu&#x0364;ltiger Begriff wa&#x0364;re, der einen Umfang ha&#x0364;tte, von<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en ganzer Bedeutung das Pra&#x0364;dicat gelte. Vergleichen<lb/>
wir dagegen ein einzelnes Urtheil mit einem gemeingu&#x0364;ltigen,<lb/>
blos als Erkentniß, der Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e nach, &#x017F;o verha&#x0364;lt &#x017F;ie &#x017F;ich zu<lb/>
die&#x017F;em, wie Einheit zur Unendlichkeit, und i&#x017F;t al&#x017F;o an<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t davon we&#x017F;entlich unter&#x017F;chieden. Al&#x017F;o, wenn<lb/>
ich ein einzelnes Urtheil (<hi rendition="#aq">iudicium &#x017F;ingulare</hi>), nicht blos<lb/>
nach &#x017F;einer innern Gu&#x0364;ltigkeit, &#x017F;ondern auch, als Erkent-<lb/>
niß u&#x0364;berhaupt, nach der Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, die es in Vergleichung<lb/>
mit andern Erkentni&#x017F;&#x017F;en hat, &#x017F;cha&#x0364;tze, &#x017F;o i&#x017F;t es allerdings<lb/>
von gemeingu&#x0364;ltigen Urtheilen (<hi rendition="#aq">iudicia communia</hi>) un-<lb/>
ter&#x017F;chieden, und verdient in einer voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen Tafel der<lb/>
Momente des Denkens u&#x0364;berhaupt (obzwar freilich nicht in<lb/>
der, blos auf den Gebrauch der Urtheile untereinander einge-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkten Logik) eine be&#x017F;ondere Stelle.</p><lb/>
                  <p>2. Eben &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en in einer trans&#x017F;endentalen Logik<lb/>
unendliche <hi rendition="#fr">Urtheile</hi> von <hi rendition="#fr">beiahenden</hi> noch unter&#x017F;chieden<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 4</fw><fw place="bottom" type="catch">wer-</fw><lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0101] II. Abſch. Von der log. Function in Urtheilen. abzuweichen ſcheint, ſo werden folgende Verwahrungen wider den beſorglichen Misverſtand nicht unnoͤthig ſeyn. 1. Die Logiker ſagen mit Recht, daß man beym Ge- brauch der Urtheile in Vernunftſchluͤſſen die einzelne Ur- theile gleich den allgemeinen behandeln koͤnne. Denn eben darum, weil ſie gar keinen Umfang haben, kan das Praͤ- dicat derſelben nicht blos auf einiges deſſen, was unter dem Begriff des Subiects enthalten iſt, gezogen, von ei- nigem aber ausgenommen werden. Es gilt alſo von ienem Begriffe ohne Ausnahme, gleich als wenn derſelbe ein ge- meinguͤltiger Begriff waͤre, der einen Umfang haͤtte, von deſſen ganzer Bedeutung das Praͤdicat gelte. Vergleichen wir dagegen ein einzelnes Urtheil mit einem gemeinguͤltigen, blos als Erkentniß, der Groͤſſe nach, ſo verhaͤlt ſie ſich zu dieſem, wie Einheit zur Unendlichkeit, und iſt alſo an ſich ſelbſt davon weſentlich unterſchieden. Alſo, wenn ich ein einzelnes Urtheil (iudicium ſingulare), nicht blos nach ſeiner innern Guͤltigkeit, ſondern auch, als Erkent- niß uͤberhaupt, nach der Groͤſſe, die es in Vergleichung mit andern Erkentniſſen hat, ſchaͤtze, ſo iſt es allerdings von gemeinguͤltigen Urtheilen (iudicia communia) un- terſchieden, und verdient in einer vollſtaͤndigen Tafel der Momente des Denkens uͤberhaupt (obzwar freilich nicht in der, blos auf den Gebrauch der Urtheile untereinander einge- ſchraͤnkten Logik) eine beſondere Stelle. 2. Eben ſo muͤſſen in einer transſendentalen Logik unendliche Urtheile von beiahenden noch unterſchieden wer- E 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/101
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/101>, abgerufen am 28.04.2024.