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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888.

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Siebentes Buch.
tend machen? Vielleicht gab es unter den Nachkommen der Hau-
degen der Reconquista Herrn, die auf dieses Maass herabgekom-
men waren; und Köpfe, die noch eine Familienähnlichkeit mit jenen
Matamoros bewahrten, sassen auf Körpern von Gnomen. Sie wur-
den aber um so höher getragen. In El Primo's Blick ist der Stolz
des ältesten Adels. Man sieht über der Landschaft noch Spuren
unregelmässig senkrechter brauner Linien, die man wohl für über-
malte Baumstämmchen oder Falten eines Vorhangs gehalten hat.
Es sind aber nichts weiter als Pinselstriche die bestimmt waren,
einen frühern Hintergrund zu kassiren. Die mit dem Borsten-
pinsel breit drüberhin gelegte Landschaft hat diese Striche nicht
ganz zugedeckt. Jener Hintergrund scheint zuerst als Zimmer-
raum beabsichtigt gewesen zu sein, wozu die Bücher und auch
die Schatten besser passen (1,07 x 0,82).

Endlich aus dem letzten Jahrzehnt die Narren in unfigür-
lichem Sinn, zwei Knaben, el Bobo de Coria (1099) und el Ninno de
Vallecas
(1098), mit denen wirklich die unterste Stufe der Mensch-
heit erreicht ist. Denn auch Idioten gehörten zu den lustigen
Personen des Palasts. Bekannt ist ja, dass solche Unglückliche
oft zu possirlichen Geberden und Einfällen neigen, ja gewisse
einseitige (technische) Talente zeigen. Mancher Leser wird
diese Beobachtung in Cretindörfern gemacht haben. In Lope's
Roman "der Pilger" erscheint ein italienischer Graf im Irrenhause
zu Valencia und bittet sich gegen ein Almosen von hundert
Scudi einen Narren aus, den er zu seiner Unterhaltung mitnehmen
will (Obras sueltas V, 303 ff.). Heutzutage kann man sich schwer
in einen Zustand der Herzens-, Verstandes- und Geschmacks-
bildung versetzen, welche die tägliche Gesellschaft solcher "Halb-
menschen" zu ertragen vermag. Man betrachtet sie mit Schauder
und Mitleiden. Indess sollte man nicht immer unter moralische
Kriterien stellen, was nur auf der Härte früheren Menschenstoffs
beruht; Vieles was man heute Humanität nennt, stammt nur
von der Krankheit des Jahrhunderts. Eben jenes Irrenhaus
(hospital dels folls) in Valencia war vielleicht die erste Anstalt,
in welcher Geisteskranken eine verhältnissmässig humane und
sogar vernünftige Behandlung zu Theil wurde1). Melancholiker
z. B. wurden nicht eingeschlossen, ja gelegentlich zu Festen mit-
genommen, sie bekamen Wein, wenn sie es wünschten. Diess

1) Endonde los freneticos se curan
con gran limpieza y celo cuidadoso. Lope, Los locos de Valencia II.

Siebentes Buch.
tend machen? Vielleicht gab es unter den Nachkommen der Hau-
degen der Reconquista Herrn, die auf dieses Maass herabgekom-
men waren; und Köpfe, die noch eine Familienähnlichkeit mit jenen
Matamoros bewahrten, sassen auf Körpern von Gnomen. Sie wur-
den aber um so höher getragen. In El Primo’s Blick ist der Stolz
des ältesten Adels. Man sieht über der Landschaft noch Spuren
unregelmässig senkrechter brauner Linien, die man wohl für über-
malte Baumstämmchen oder Falten eines Vorhangs gehalten hat.
Es sind aber nichts weiter als Pinselstriche die bestimmt waren,
einen frühern Hintergrund zu kassiren. Die mit dem Borsten-
pinsel breit drüberhin gelegte Landschaft hat diese Striche nicht
ganz zugedeckt. Jener Hintergrund scheint zuerst als Zimmer-
raum beabsichtigt gewesen zu sein, wozu die Bücher und auch
die Schatten besser passen (1,07 × 0,82).

Endlich aus dem letzten Jahrzehnt die Narren in unfigür-
lichem Sinn, zwei Knaben, el Bobo de Coria (1099) und el Niño de
Vallecas
(1098), mit denen wirklich die unterste Stufe der Mensch-
heit erreicht ist. Denn auch Idioten gehörten zu den lustigen
Personen des Palasts. Bekannt ist ja, dass solche Unglückliche
oft zu possirlichen Geberden und Einfällen neigen, ja gewisse
einseitige (technische) Talente zeigen. Mancher Leser wird
diese Beobachtung in Cretindörfern gemacht haben. In Lope’s
Roman „der Pilger“ erscheint ein italienischer Graf im Irrenhause
zu Valencia und bittet sich gegen ein Almosen von hundert
Scudi einen Narren aus, den er zu seiner Unterhaltung mitnehmen
will (Obras sueltas V, 303 ff.). Heutzutage kann man sich schwer
in einen Zustand der Herzens-, Verstandes- und Geschmacks-
bildung versetzen, welche die tägliche Gesellschaft solcher „Halb-
menschen“ zu ertragen vermag. Man betrachtet sie mit Schauder
und Mitleiden. Indess sollte man nicht immer unter moralische
Kriterien stellen, was nur auf der Härte früheren Menschenstoffs
beruht; Vieles was man heute Humanität nennt, stammt nur
von der Krankheit des Jahrhunderts. Eben jenes Irrenhaus
(hospital dels folls) in Valencia war vielleicht die erste Anstalt,
in welcher Geisteskranken eine verhältnissmässig humane und
sogar vernünftige Behandlung zu Theil wurde1). Melancholiker
z. B. wurden nicht eingeschlossen, ja gelegentlich zu Festen mit-
genommen, sie bekamen Wein, wenn sie es wünschten. Diess

1) Endonde los frenéticos se curan
con gran limpieza y celo cuidadoso. Lope, Los locos de Valencia II.
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[356/0380] Siebentes Buch. tend machen? Vielleicht gab es unter den Nachkommen der Hau- degen der Reconquista Herrn, die auf dieses Maass herabgekom- men waren; und Köpfe, die noch eine Familienähnlichkeit mit jenen Matamoros bewahrten, sassen auf Körpern von Gnomen. Sie wur- den aber um so höher getragen. In El Primo’s Blick ist der Stolz des ältesten Adels. Man sieht über der Landschaft noch Spuren unregelmässig senkrechter brauner Linien, die man wohl für über- malte Baumstämmchen oder Falten eines Vorhangs gehalten hat. Es sind aber nichts weiter als Pinselstriche die bestimmt waren, einen frühern Hintergrund zu kassiren. Die mit dem Borsten- pinsel breit drüberhin gelegte Landschaft hat diese Striche nicht ganz zugedeckt. Jener Hintergrund scheint zuerst als Zimmer- raum beabsichtigt gewesen zu sein, wozu die Bücher und auch die Schatten besser passen (1,07 × 0,82). Endlich aus dem letzten Jahrzehnt die Narren in unfigür- lichem Sinn, zwei Knaben, el Bobo de Coria (1099) und el Niño de Vallecas (1098), mit denen wirklich die unterste Stufe der Mensch- heit erreicht ist. Denn auch Idioten gehörten zu den lustigen Personen des Palasts. Bekannt ist ja, dass solche Unglückliche oft zu possirlichen Geberden und Einfällen neigen, ja gewisse einseitige (technische) Talente zeigen. Mancher Leser wird diese Beobachtung in Cretindörfern gemacht haben. In Lope’s Roman „der Pilger“ erscheint ein italienischer Graf im Irrenhause zu Valencia und bittet sich gegen ein Almosen von hundert Scudi einen Narren aus, den er zu seiner Unterhaltung mitnehmen will (Obras sueltas V, 303 ff.). Heutzutage kann man sich schwer in einen Zustand der Herzens-, Verstandes- und Geschmacks- bildung versetzen, welche die tägliche Gesellschaft solcher „Halb- menschen“ zu ertragen vermag. Man betrachtet sie mit Schauder und Mitleiden. Indess sollte man nicht immer unter moralische Kriterien stellen, was nur auf der Härte früheren Menschenstoffs beruht; Vieles was man heute Humanität nennt, stammt nur von der Krankheit des Jahrhunderts. Eben jenes Irrenhaus (hospital dels folls) in Valencia war vielleicht die erste Anstalt, in welcher Geisteskranken eine verhältnissmässig humane und sogar vernünftige Behandlung zu Theil wurde 1). Melancholiker z. B. wurden nicht eingeschlossen, ja gelegentlich zu Festen mit- genommen, sie bekamen Wein, wenn sie es wünschten. Diess 1) Endonde los frenéticos se curan con gran limpieza y celo cuidadoso. Lope, Los locos de Valencia II.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888/380>, abgerufen am 27.11.2024.