handelt, so muß man die Geschichte der Menschheit forschen, und den Menschen be- obachten, wie er im rohesten Zustande han- delt. Die Wilden sind mehr oder weniger diesem Stande nahe, kein Volk aber ist in seiner völligen Kindheit bekannt.
§. 9. Ein Mensch, der seine wesentliche Bedürfnisse gar nicht befriedigen kann, hört bald auf zu leben. Wer sie nicht völlig be- friedigen kann, ist arm. Wer sie aber voll- kommen befriedigen kann, der hat sein Aus- kommen.
§. 10. Die sinnlichen Werkzeuge des Men- schen sind so eingerichtet, daß die erschaffenen Dinge auf sie wirken, in diesem Wirken aber zugleich Veränderungen in der Seele hervor- bringen, die entweder Vergnügen oder Verdruß heißen, erstes wird vom Menschen verlangt, leztes vermieden. Verlangen nach Vergnügen, wohin auch die Vermeidung des Verdrusses gehört, ist Empfindung eines Man- gels, mithin Bedürfniß. Da aber dieser Mangel nicht wesentlich, sondern nur zufäl- lig ist, so sind die Bedürfnisse des Vergnü-
gens:
A 3
Beduͤrfniß-Lehre
handelt, ſo muß man die Geſchichte der Menſchheit forſchen, und den Menſchen be- obachten, wie er im roheſten Zuſtande han- delt. Die Wilden ſind mehr oder weniger dieſem Stande nahe, kein Volk aber iſt in ſeiner voͤlligen Kindheit bekannt.
§. 9. Ein Menſch, der ſeine weſentliche Beduͤrfniſſe gar nicht befriedigen kann, hoͤrt bald auf zu leben. Wer ſie nicht voͤllig be- friedigen kann, iſt arm. Wer ſie aber voll- kommen befriedigen kann, der hat ſein Aus- kommen.
§. 10. Die ſinnlichen Werkzeuge des Men- ſchen ſind ſo eingerichtet, daß die erſchaffenen Dinge auf ſie wirken, in dieſem Wirken aber zugleich Veraͤnderungen in der Seele hervor- bringen, die entweder Vergnuͤgen oder Verdruß heißen, erſtes wird vom Menſchen verlangt, leztes vermieden. Verlangen nach Vergnuͤgen, wohin auch die Vermeidung des Verdruſſes gehoͤrt, iſt Empfindung eines Man- gels, mithin Beduͤrfniß. Da aber dieſer Mangel nicht weſentlich, ſondern nur zufaͤl- lig iſt, ſo ſind die Beduͤrfniſſe des Vergnuͤ-
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A 3
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Beduͤrfniß-Lehre
handelt, ſo muß man die Geſchichte der
Menſchheit forſchen, und den Menſchen be-
obachten, wie er im roheſten Zuſtande han-
delt. Die Wilden ſind mehr oder weniger
dieſem Stande nahe, kein Volk aber iſt in
ſeiner voͤlligen Kindheit bekannt.
§. 9. Ein Menſch, der ſeine weſentliche
Beduͤrfniſſe gar nicht befriedigen kann, hoͤrt
bald auf zu leben. Wer ſie nicht voͤllig be-
friedigen kann, iſt arm. Wer ſie aber voll-
kommen befriedigen kann, der hat ſein Aus-
kommen.
§. 10. Die ſinnlichen Werkzeuge des Men-
ſchen ſind ſo eingerichtet, daß die erſchaffenen
Dinge auf ſie wirken, in dieſem Wirken aber
zugleich Veraͤnderungen in der Seele hervor-
bringen, die entweder Vergnuͤgen oder
Verdruß heißen, erſtes wird vom Menſchen
verlangt, leztes vermieden. Verlangen nach
Vergnuͤgen, wohin auch die Vermeidung des
Verdruſſes gehoͤrt, iſt Empfindung eines Man-
gels, mithin Beduͤrfniß. Da aber dieſer
Mangel nicht weſentlich, ſondern nur zufaͤl-
lig iſt, ſo ſind die Beduͤrfniſſe des Vergnuͤ-
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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften. Lautern, 1779, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jungstilling_versuch_1779/25>, abgerufen am 16.02.2025.
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