nicht aufhören zu fragen, wie seine Mutter ausgesehen, was sie angehabt, und so weiter. Alle Drei verrichteten den Tag durch ihre Arbeit, und sprachen beständig von dieser Geschichte. Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer, der in der Fremde und nicht zu Hause ist.
Ein altes Herkommen, dessen ich (wie vieler andern) noch nicht erwähnt, war, daß Vater Stilling alle Jahr selbsten ein Stück seines Hausdaches, das Stroh war, eigenhändig decken mußte. Das hatte er nun schon acht und vierzig Jahr gethan, und diesen Sommer sollt es wieder geschehen. Er rich- tete es so ein, daß er alle Jahre so viel davon neu deckte, so weit das Roggenstroh reichte, das er für dieß Jahr gezogen hatte.
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und rückte nun mit Macht heran; so daß Vater Stilling anfing, da- rauf zu Werk zu legen. Heinrich war dazu bestimmt, ihm zur Hand zu langen, und also wurde die lateinische Schule auf acht Tage ausgesetzt Margarethe und Mariechen hielten täglich in der Rüche geheimen Rath über die bequem- sten Mittel, wodurch er vom Dachdecken zurückgehalten werden möchte. Sie beschloßen endlich Beide, ihm ernstliche Vorstel- lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; sie hatten die Zeit während des Mittagessens dazu bestimmt.
Margarethe brachte also eine Schüssel Mus, und auf derselben vier Stücke Fleisches, die so gelegt waren, daß ein jedes just vor den zu stehen kam, für den es bestimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll ge- brockter Milch. Beide setzten ihre Schüsseln auf den Tisch, an welchem Vater Stilling und Heinrich schon an ihrem Ort saßen, und mit wichtiger Miene von ihrer nun morgen anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn im Vertrauen ge- sagt, wie sehr auch Heinrich auf Studieren, Wissenschaf- ten und Bücher verpicht seyn mochte, so war's ihm doch eine weit größere Freude, in Gesellschaft seines Großvaters, zu- weilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern; denn dieses war nun schon das dritte Jahr, daß er seinem Großvater als Diakonus bei dieser jähr- lichen Solennität beigestanden. Es ist also leicht zu denken,
nicht aufhoͤren zu fragen, wie ſeine Mutter ausgeſehen, was ſie angehabt, und ſo weiter. Alle Drei verrichteten den Tag durch ihre Arbeit, und ſprachen beſtaͤndig von dieſer Geſchichte. Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer, der in der Fremde und nicht zu Hauſe iſt.
Ein altes Herkommen, deſſen ich (wie vieler andern) noch nicht erwaͤhnt, war, daß Vater Stilling alle Jahr ſelbſten ein Stuͤck ſeines Hausdaches, das Stroh war, eigenhaͤndig decken mußte. Das hatte er nun ſchon acht und vierzig Jahr gethan, und dieſen Sommer ſollt es wieder geſchehen. Er rich- tete es ſo ein, daß er alle Jahre ſo viel davon neu deckte, ſo weit das Roggenſtroh reichte, das er fuͤr dieß Jahr gezogen hatte.
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und ruͤckte nun mit Macht heran; ſo daß Vater Stilling anfing, da- rauf zu Werk zu legen. Heinrich war dazu beſtimmt, ihm zur Hand zu langen, und alſo wurde die lateiniſche Schule auf acht Tage ausgeſetzt Margarethe und Mariechen hielten taͤglich in der Ruͤche geheimen Rath uͤber die bequem- ſten Mittel, wodurch er vom Dachdecken zuruͤckgehalten werden moͤchte. Sie beſchloßen endlich Beide, ihm ernſtliche Vorſtel- lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; ſie hatten die Zeit waͤhrend des Mittageſſens dazu beſtimmt.
Margarethe brachte alſo eine Schuͤſſel Mus, und auf derſelben vier Stuͤcke Fleiſches, die ſo gelegt waren, daß ein jedes juſt vor den zu ſtehen kam, fuͤr den es beſtimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll ge- brockter Milch. Beide ſetzten ihre Schuͤſſeln auf den Tiſch, an welchem Vater Stilling und Heinrich ſchon an ihrem Ort ſaßen, und mit wichtiger Miene von ihrer nun morgen anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn im Vertrauen ge- ſagt, wie ſehr auch Heinrich auf Studieren, Wiſſenſchaf- ten und Buͤcher verpicht ſeyn mochte, ſo war’s ihm doch eine weit groͤßere Freude, in Geſellſchaft ſeines Großvaters, zu- weilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern; denn dieſes war nun ſchon das dritte Jahr, daß er ſeinem Großvater als Diakonus bei dieſer jaͤhr- lichen Solennitaͤt beigeſtanden. Es iſt alſo leicht zu denken,
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nicht aufhoͤren zu fragen, wie ſeine Mutter ausgeſehen, was
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durch ihre Arbeit, und ſprachen beſtaͤndig von dieſer Geſchichte.
Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer, der
in der Fremde und nicht zu Hauſe iſt.
Ein altes Herkommen, deſſen ich (wie vieler andern) noch
nicht erwaͤhnt, war, daß Vater Stilling alle Jahr ſelbſten
ein Stuͤck ſeines Hausdaches, das Stroh war, eigenhaͤndig
decken mußte. Das hatte er nun ſchon acht und vierzig Jahr
gethan, und dieſen Sommer ſollt es wieder geſchehen. Er rich-
tete es ſo ein, daß er alle Jahre ſo viel davon neu deckte, ſo
weit das Roggenſtroh reichte, das er fuͤr dieß Jahr gezogen hatte.
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und ruͤckte
nun mit Macht heran; ſo daß Vater Stilling anfing, da-
rauf zu Werk zu legen. Heinrich war dazu beſtimmt, ihm
zur Hand zu langen, und alſo wurde die lateiniſche Schule
auf acht Tage ausgeſetzt Margarethe und Mariechen
hielten taͤglich in der Ruͤche geheimen Rath uͤber die bequem-
ſten Mittel, wodurch er vom Dachdecken zuruͤckgehalten werden
moͤchte. Sie beſchloßen endlich Beide, ihm ernſtliche Vorſtel-
lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; ſie hatten
die Zeit waͤhrend des Mittageſſens dazu beſtimmt.
Margarethe brachte alſo eine Schuͤſſel Mus, und auf
derſelben vier Stuͤcke Fleiſches, die ſo gelegt waren, daß ein
jedes juſt vor den zu ſtehen kam, fuͤr den es beſtimmt war.
Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll ge-
brockter Milch. Beide ſetzten ihre Schuͤſſeln auf den Tiſch,
an welchem Vater Stilling und Heinrich ſchon an ihrem
Ort ſaßen, und mit wichtiger Miene von ihrer nun morgen
anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn im Vertrauen ge-
ſagt, wie ſehr auch Heinrich auf Studieren, Wiſſenſchaf-
ten und Buͤcher verpicht ſeyn mochte, ſo war’s ihm doch eine
weit groͤßere Freude, in Geſellſchaft ſeines Großvaters, zu-
weilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem
Hausdach zu klettern; denn dieſes war nun ſchon das dritte
Jahr, daß er ſeinem Großvater als Diakonus bei dieſer jaͤhr-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/98>, abgerufen am 24.11.2024.
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