Die ganze Beschäftigung dieses Mannes ging während die- ser Zeit dahin, mit seinem Schneiderhandwerke seine Bedürf- nisse zu erwerben (denn er gab für sich und sein Kind wöchent- lich ein erträgliches Kostgeld ab an seine Eltern) und dann alle Neigungen seines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit ab- zielten, zu dämpfen: endlich aber auch seinen Sohn in eben den Grundsätzen zu erziehen, die er sich als wahr und festge- gründet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr stand er auf und fing an zu arbeiten: um sieben weckte er seinen Heinrichen, und beim ersten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Gütigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von seinen Engeln bewachen lassen. Danke ihm dafür, mein Kind! sagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieses geschehen, so mußte er sich in kaltem Wasser waschen, und dann nahm ihn Wilhelm bei sich, schloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee und betete mit der größten Innbrunst des Geistes zu Gott, wobei ihm die Thränen oft häufig zur Erde floßen. Dann bekam der Junge sein Frühstück, welches er mit einem Anstand und Ord- nung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prin- zen gespeiset hätte. Nun mußte er ein kleines Stück im Ca- techismus lesen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte, anmuthige und einem Kind begreifliche Geschichten, Theils geistliche, Theils weltliche, zu lesen, als da war: der Kaiser Oktavianus mit seinem Weib und Söhnen; die Historie von den vier Haymons-Kindern; die schöne Me- lusine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Kna- ben mit andern Kindern zu spielen, sondern er hielt ihn so ein- gezogen, daß er im siebenten Jahre seines Alters noch keine Nachbars-Kinder, wohl aber eine ganze Reihe schöner Bücher kannte. Daher kam es denn, daß seine ganze Seele anfing, sich mit Idealen zu belustigen; seine Einbildungskraft ward erhöht, weil sie keine andere Gegenstände bekam, als idealische Personen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, de- ren Tugenden übertrieben geschildert wurden, setzten sich un- vermerkt, als so viel nachahmungswürdige Gegenstände, in sein Gemüth feste, und die Laster wurden ihm zum größesten
Die ganze Beſchaͤftigung dieſes Mannes ging waͤhrend die- ſer Zeit dahin, mit ſeinem Schneiderhandwerke ſeine Beduͤrf- niſſe zu erwerben (denn er gab fuͤr ſich und ſein Kind woͤchent- lich ein ertraͤgliches Koſtgeld ab an ſeine Eltern) und dann alle Neigungen ſeines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit ab- zielten, zu daͤmpfen: endlich aber auch ſeinen Sohn in eben den Grundſaͤtzen zu erziehen, die er ſich als wahr und feſtge- gruͤndet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr ſtand er auf und fing an zu arbeiten: um ſieben weckte er ſeinen Heinrichen, und beim erſten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Guͤtigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von ſeinen Engeln bewachen laſſen. Danke ihm dafuͤr, mein Kind! ſagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieſes geſchehen, ſo mußte er ſich in kaltem Waſſer waſchen, und dann nahm ihn Wilhelm bei ſich, ſchloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee und betete mit der groͤßten Innbrunſt des Geiſtes zu Gott, wobei ihm die Thraͤnen oft haͤufig zur Erde floßen. Dann bekam der Junge ſein Fruͤhſtuͤck, welches er mit einem Anſtand und Ord- nung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prin- zen geſpeiſet haͤtte. Nun mußte er ein kleines Stuͤck im Ca- techismus leſen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte, anmuthige und einem Kind begreifliche Geſchichten, Theils geiſtliche, Theils weltliche, zu leſen, als da war: der Kaiſer Oktavianus mit ſeinem Weib und Soͤhnen; die Hiſtorie von den vier Haymons-Kindern; die ſchoͤne Me- luſine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Kna- ben mit andern Kindern zu ſpielen, ſondern er hielt ihn ſo ein- gezogen, daß er im ſiebenten Jahre ſeines Alters noch keine Nachbars-Kinder, wohl aber eine ganze Reihe ſchoͤner Buͤcher kannte. Daher kam es denn, daß ſeine ganze Seele anfing, ſich mit Idealen zu beluſtigen; ſeine Einbildungskraft ward erhoͤht, weil ſie keine andere Gegenſtaͤnde bekam, als idealiſche Perſonen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, de- ren Tugenden uͤbertrieben geſchildert wurden, ſetzten ſich un- vermerkt, als ſo viel nachahmungswuͤrdige Gegenſtaͤnde, in ſein Gemuͤth feſte, und die Laſter wurden ihm zum groͤßeſten
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Die ganze Beſchaͤftigung dieſes Mannes ging waͤhrend die-
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niſſe zu erwerben (denn er gab fuͤr ſich und ſein Kind woͤchent-
lich ein ertraͤgliches Koſtgeld ab an ſeine Eltern) und dann
alle Neigungen ſeines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit ab-
zielten, zu daͤmpfen: endlich aber auch ſeinen Sohn in eben
den Grundſaͤtzen zu erziehen, die er ſich als wahr und feſtge-
gruͤndet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr ſtand
er auf und fing an zu arbeiten: um ſieben weckte er ſeinen
Heinrichen, und beim erſten Erwachen erinnerte er ihn
freundlich an die Guͤtigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch
von ſeinen Engeln bewachen laſſen. Danke ihm dafuͤr, mein
Kind! ſagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War
dieſes geſchehen, ſo mußte er ſich in kaltem Waſſer waſchen,
und dann nahm ihn Wilhelm bei ſich, ſchloß die Kammer
zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee und betete
mit der groͤßten Innbrunſt des Geiſtes zu Gott, wobei ihm
die Thraͤnen oft haͤufig zur Erde floßen. Dann bekam der
Junge ſein Fruͤhſtuͤck, welches er mit einem Anſtand und Ord-
nung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prin-
zen geſpeiſet haͤtte. Nun mußte er ein kleines Stuͤck im Ca-
techismus leſen, und vor und nach auswendig lernen; auch
war ihm erlaubt, alte, anmuthige und einem Kind begreifliche
Geſchichten, Theils geiſtliche, Theils weltliche, zu leſen, als
da war: der Kaiſer Oktavianus mit ſeinem Weib und Soͤhnen;
die Hiſtorie von den vier Haymons-Kindern; die ſchoͤne Me-
luſine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Kna-
ben mit andern Kindern zu ſpielen, ſondern er hielt ihn ſo ein-
gezogen, daß er im ſiebenten Jahre ſeines Alters noch keine
Nachbars-Kinder, wohl aber eine ganze Reihe ſchoͤner Buͤcher
kannte. Daher kam es denn, daß ſeine ganze Seele anfing,
ſich mit Idealen zu beluſtigen; ſeine Einbildungskraft ward
erhoͤht, weil ſie keine andere Gegenſtaͤnde bekam, als idealiſche
Perſonen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, de-
ren Tugenden uͤbertrieben geſchildert wurden, ſetzten ſich un-
vermerkt, als ſo viel nachahmungswuͤrdige Gegenſtaͤnde, in
ſein Gemuͤth feſte, und die Laſter wurden ihm zum groͤßeſten
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/74>, abgerufen am 24.11.2024.
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