eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbseidenen Stoffen unter sich angelegt, wovon sie sich nähreten. Was nun kluge Köpfe waren, die die Moden und den Wohlstand in der Welt kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat- ten gar keinen Geschmack an dieser Einrichtung. Sie wußten, wie schimpflich es in der großen Welt wäre, sich öffentlich zu Jesu Christo zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo- rinnen man sich ermahnte, Dessen Lehre und Leben nachzufol- gen. Daher waren denn auch diese Leute in der Welt ver- achtet, und hatten keinen Werth; sogar fanden sich Menschen, die wollten gesehen haben, daß sie auf ihrem Schlosse allerhand Gräuel verübten, wodurch dann die Verachtung noch größer wurde. Mehr konnte man sich aber nicht ärgern, als wenn man hörte, daß diese Leute über solche Schmach noch froh wa- ren, und sagten, daß es ihrem Meister eben so ergangen. Un- ter dieser Gesellschaft war Einer, Namens Niclas, ein Mensch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie studirt, dabei aber die Mängel aller Systeme ent- deckt, auch öffentlich dagegen geredet und geschrieben; wes- wegen er ins Gefängniß gelegt, hernach aber daraus wieder befreit worden, und mit einem gewissen Herrn lange auf Rei- sen gewesen war. Er hatte sich, um ruhig und frei zu leben, unter diese Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk nichts verstand, so trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu sagen pflegt, er ging damit hausieren. Dieser Niclas war oft in Stillings Hause gewesen; weil er aber wußte, wie fest man daselbst an den Grundsätzen der reformirten Religion und Kirche hinge, so hatte er sich nie herausgelassen; zu dieser Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing, aus dem schwärzesten Kummer sich loszuwenden, fand er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieses Gespräch ist wich- tig, darum will ich es hier beifügen, so wie mir's Niclas selbsten erzählt hat.
Nachdem sich Niclas gesetzt, fing er an: Wie gehts Euch nun, Meister Stilling, könnt Ihr Euch auch in das Ster- ben Eurer Frau schicken?
eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbſeidenen Stoffen unter ſich angelegt, wovon ſie ſich naͤhreten. Was nun kluge Koͤpfe waren, die die Moden und den Wohlſtand in der Welt kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat- ten gar keinen Geſchmack an dieſer Einrichtung. Sie wußten, wie ſchimpflich es in der großen Welt waͤre, ſich oͤffentlich zu Jeſu Chriſto zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo- rinnen man ſich ermahnte, Deſſen Lehre und Leben nachzufol- gen. Daher waren denn auch dieſe Leute in der Welt ver- achtet, und hatten keinen Werth; ſogar fanden ſich Menſchen, die wollten geſehen haben, daß ſie auf ihrem Schloſſe allerhand Graͤuel veruͤbten, wodurch dann die Verachtung noch groͤßer wurde. Mehr konnte man ſich aber nicht aͤrgern, als wenn man hoͤrte, daß dieſe Leute uͤber ſolche Schmach noch froh wa- ren, und ſagten, daß es ihrem Meiſter eben ſo ergangen. Un- ter dieſer Geſellſchaft war Einer, Namens Niclas, ein Menſch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie ſtudirt, dabei aber die Maͤngel aller Syſteme ent- deckt, auch oͤffentlich dagegen geredet und geſchrieben; wes- wegen er ins Gefaͤngniß gelegt, hernach aber daraus wieder befreit worden, und mit einem gewiſſen Herrn lange auf Rei- ſen geweſen war. Er hatte ſich, um ruhig und frei zu leben, unter dieſe Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk nichts verſtand, ſo trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu ſagen pflegt, er ging damit hauſieren. Dieſer Niclas war oft in Stillings Hauſe geweſen; weil er aber wußte, wie feſt man daſelbſt an den Grundſaͤtzen der reformirten Religion und Kirche hinge, ſo hatte er ſich nie herausgelaſſen; zu dieſer Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing, aus dem ſchwaͤrzeſten Kummer ſich loszuwenden, fand er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieſes Geſpraͤch iſt wich- tig, darum will ich es hier beifuͤgen, ſo wie mir’s Niclas ſelbſten erzaͤhlt hat.
Nachdem ſich Niclas geſetzt, fing er an: Wie gehts Euch nun, Meiſter Stilling, koͤnnt Ihr Euch auch in das Ster- ben Eurer Frau ſchicken?
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0070"n="62"/>
eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbſeidenen Stoffen<lb/>
unter ſich angelegt, wovon ſie ſich naͤhreten. Was nun kluge<lb/>
Koͤpfe waren, die die Moden und den Wohlſtand in der Welt<lb/>
kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat-<lb/>
ten gar keinen Geſchmack an dieſer Einrichtung. Sie wußten,<lb/>
wie ſchimpflich es in der großen Welt waͤre, ſich oͤffentlich zu<lb/>
Jeſu Chriſto zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo-<lb/>
rinnen man ſich ermahnte, Deſſen Lehre und Leben nachzufol-<lb/>
gen. Daher waren denn auch dieſe Leute in der Welt ver-<lb/>
achtet, und hatten keinen Werth; ſogar fanden ſich Menſchen,<lb/>
die wollten geſehen haben, daß ſie auf ihrem Schloſſe allerhand<lb/>
Graͤuel veruͤbten, wodurch dann die Verachtung noch groͤßer<lb/>
wurde. Mehr konnte man ſich aber nicht aͤrgern, als wenn<lb/>
man hoͤrte, daß dieſe Leute uͤber ſolche Schmach noch froh wa-<lb/>
ren, und ſagten, daß es ihrem Meiſter eben ſo ergangen. Un-<lb/>
ter <hirendition="#g">dieſer</hi> Geſellſchaft war Einer, Namens <hirendition="#g">Niclas</hi>, ein<lb/>
Menſch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte<lb/>
Theologie ſtudirt, dabei aber die Maͤngel aller Syſteme ent-<lb/>
deckt, auch oͤffentlich dagegen geredet und geſchrieben; wes-<lb/>
wegen er ins Gefaͤngniß gelegt, hernach aber daraus wieder<lb/>
befreit worden, und mit einem gewiſſen Herrn lange auf Rei-<lb/>ſen geweſen war. Er hatte ſich, um ruhig und frei zu leben,<lb/>
unter dieſe Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk<lb/>
nichts verſtand, ſo trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher<lb/>
feil, oder, wie man zu ſagen pflegt, er ging damit hauſieren.<lb/>
Dieſer <hirendition="#g">Niclas</hi> war oft in <hirendition="#g">Stillings</hi> Hauſe geweſen; weil<lb/>
er aber wußte, wie feſt man daſelbſt an den Grundſaͤtzen der<lb/>
reformirten Religion und Kirche hinge, ſo hatte er ſich nie<lb/>
herausgelaſſen; zu dieſer Zeit aber, da <hirendition="#g">Wilhelm Stilling</hi><lb/>
anfing, aus dem ſchwaͤrzeſten Kummer ſich loszuwenden, fand<lb/>
er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieſes Geſpraͤch iſt wich-<lb/>
tig, darum will ich es hier beifuͤgen, ſo wie mir’s <hirendition="#g">Niclas</hi><lb/>ſelbſten erzaͤhlt hat.</p><lb/><p>Nachdem ſich <hirendition="#g">Niclas</hi> geſetzt, fing er an: Wie gehts Euch<lb/>
nun, Meiſter <hirendition="#g">Stilling</hi>, koͤnnt Ihr Euch auch in das Ster-<lb/>
ben Eurer Frau ſchicken?</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[62/0070]
eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbſeidenen Stoffen
unter ſich angelegt, wovon ſie ſich naͤhreten. Was nun kluge
Koͤpfe waren, die die Moden und den Wohlſtand in der Welt
kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat-
ten gar keinen Geſchmack an dieſer Einrichtung. Sie wußten,
wie ſchimpflich es in der großen Welt waͤre, ſich oͤffentlich zu
Jeſu Chriſto zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo-
rinnen man ſich ermahnte, Deſſen Lehre und Leben nachzufol-
gen. Daher waren denn auch dieſe Leute in der Welt ver-
achtet, und hatten keinen Werth; ſogar fanden ſich Menſchen,
die wollten geſehen haben, daß ſie auf ihrem Schloſſe allerhand
Graͤuel veruͤbten, wodurch dann die Verachtung noch groͤßer
wurde. Mehr konnte man ſich aber nicht aͤrgern, als wenn
man hoͤrte, daß dieſe Leute uͤber ſolche Schmach noch froh wa-
ren, und ſagten, daß es ihrem Meiſter eben ſo ergangen. Un-
ter dieſer Geſellſchaft war Einer, Namens Niclas, ein
Menſch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte
Theologie ſtudirt, dabei aber die Maͤngel aller Syſteme ent-
deckt, auch oͤffentlich dagegen geredet und geſchrieben; wes-
wegen er ins Gefaͤngniß gelegt, hernach aber daraus wieder
befreit worden, und mit einem gewiſſen Herrn lange auf Rei-
ſen geweſen war. Er hatte ſich, um ruhig und frei zu leben,
unter dieſe Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk
nichts verſtand, ſo trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher
feil, oder, wie man zu ſagen pflegt, er ging damit hauſieren.
Dieſer Niclas war oft in Stillings Hauſe geweſen; weil
er aber wußte, wie feſt man daſelbſt an den Grundſaͤtzen der
reformirten Religion und Kirche hinge, ſo hatte er ſich nie
herausgelaſſen; zu dieſer Zeit aber, da Wilhelm Stilling
anfing, aus dem ſchwaͤrzeſten Kummer ſich loszuwenden, fand
er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieſes Geſpraͤch iſt wich-
tig, darum will ich es hier beifuͤgen, ſo wie mir’s Niclas
ſelbſten erzaͤhlt hat.
Nachdem ſich Niclas geſetzt, fing er an: Wie gehts Euch
nun, Meiſter Stilling, koͤnnt Ihr Euch auch in das Ster-
ben Eurer Frau ſchicken?
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/70>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.