seine Knieen zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn ge- sparte Butterbrod; mauste auch wohl selbsten im Quersack, um es zu finden; es schmeckte ihm besser, als sonst der aller- beste Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wiewohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieses vertrocknete Butterbrod verzehrte Heinrich auf seines Großvaters Schooß, wobei ihm derselbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein Hüneli; oder auch: Reiter zu Pferd da kommen wir her, vorsang, wobei er immer die Bewegung eines tra- benden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort: Stilling hatte den Kunstgriff in seiner Kindererziehung, er wußte alle Augenblick eine neue Belustigung für Hein- richen, die immer so beschaffen waren, daß sie seinem Alter angemessen, das ist, ihm begreiflich waren; doch so, daß im- mer dasjenige, was den Menschen ehrwürdig seyn muß, nicht allein nicht verkleinert, sondern gleichsam im Vorbeigang groß und schön vorgestellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu seinem Großvater, die über alles ging: und da- her hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm sein Großvater sagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.
Die stille Wehmuth Wilhelms verwandelte sich nun vor und nach in eine gesprächige und vertrauliche Traurigkeit. Nun sprach er wieder mit seinen Leuten; ganze Tage redeten sie von Dortchen, sangen ihre Lieder, besahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an, ein Wonne- gefühl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu schmecken, der über alles ging, wenn er sich vorstellte, daß über kurze Jahre auch ihn der Tod würde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befürchten, ewig in Gesellschaft seines Dortchens die höchste Glückseligkeit, deren der Mensch nur fähig ist, würde zu genießen haben. Dieser große Ge- danke zog eine ganze Lebensänderung nach sich, wozu folgen- der Vorfall noch ein Großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbschaft an einen gewissen Grafen gefallen war. Auf diesem Schloß hatte sich eine Gesellschaft frommer Leute
ſeine Knieen zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn ge- ſparte Butterbrod; mauste auch wohl ſelbſten im Querſack, um es zu finden; es ſchmeckte ihm beſſer, als ſonſt der aller- beſte Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wiewohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieſes vertrocknete Butterbrod verzehrte Heinrich auf ſeines Großvaters Schooß, wobei ihm derſelbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein Huͤneli; oder auch: Reiter zu Pferd da kommen wir her, vorſang, wobei er immer die Bewegung eines tra- benden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort: Stilling hatte den Kunſtgriff in ſeiner Kindererziehung, er wußte alle Augenblick eine neue Beluſtigung fuͤr Hein- richen, die immer ſo beſchaffen waren, daß ſie ſeinem Alter angemeſſen, das iſt, ihm begreiflich waren; doch ſo, daß im- mer dasjenige, was den Menſchen ehrwuͤrdig ſeyn muß, nicht allein nicht verkleinert, ſondern gleichſam im Vorbeigang groß und ſchoͤn vorgeſtellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu ſeinem Großvater, die uͤber alles ging: und da- her hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm ſein Großvater ſagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.
Die ſtille Wehmuth Wilhelms verwandelte ſich nun vor und nach in eine geſpraͤchige und vertrauliche Traurigkeit. Nun ſprach er wieder mit ſeinen Leuten; ganze Tage redeten ſie von Dortchen, ſangen ihre Lieder, beſahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an, ein Wonne- gefuͤhl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu ſchmecken, der uͤber alles ging, wenn er ſich vorſtellte, daß uͤber kurze Jahre auch ihn der Tod wuͤrde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befuͤrchten, ewig in Geſellſchaft ſeines Dortchens die hoͤchſte Gluͤckſeligkeit, deren der Menſch nur faͤhig iſt, wuͤrde zu genießen haben. Dieſer große Ge- danke zog eine ganze Lebensaͤnderung nach ſich, wozu folgen- der Vorfall noch ein Großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbſchaft an einen gewiſſen Grafen gefallen war. Auf dieſem Schloß hatte ſich eine Geſellſchaft frommer Leute
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[61/0069]
ſeine Knieen zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn ge-
ſparte Butterbrod; mauste auch wohl ſelbſten im Querſack,
um es zu finden; es ſchmeckte ihm beſſer, als ſonſt der aller-
beſte Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wiewohl es allezeit
von der Luft hart und vertrocknet war. Dieſes vertrocknete
Butterbrod verzehrte Heinrich auf ſeines Großvaters Schooß,
wobei ihm derſelbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein
Huͤneli; oder auch: Reiter zu Pferd da kommen
wir her, vorſang, wobei er immer die Bewegung eines tra-
benden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort:
Stilling hatte den Kunſtgriff in ſeiner Kindererziehung,
er wußte alle Augenblick eine neue Beluſtigung fuͤr Hein-
richen, die immer ſo beſchaffen waren, daß ſie ſeinem Alter
angemeſſen, das iſt, ihm begreiflich waren; doch ſo, daß im-
mer dasjenige, was den Menſchen ehrwuͤrdig ſeyn muß, nicht
allein nicht verkleinert, ſondern gleichſam im Vorbeigang
groß und ſchoͤn vorgeſtellt wurde. Dadurch gewann der Knabe
eine Liebe zu ſeinem Großvater, die uͤber alles ging: und da-
her hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte,
Eingang bei ihm. Was ihm ſein Großvater ſagte, das glaubte
er ohne weiteres Nachdenken.
Die ſtille Wehmuth Wilhelms verwandelte ſich nun vor
und nach in eine geſpraͤchige und vertrauliche Traurigkeit.
Nun ſprach er wieder mit ſeinen Leuten; ganze Tage redeten
ſie von Dortchen, ſangen ihre Lieder, beſahen ihre Kleider,
und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an, ein Wonne-
gefuͤhl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden
zu ſchmecken, der uͤber alles ging, wenn er ſich vorſtellte, daß
uͤber kurze Jahre auch ihn der Tod wuͤrde abfordern, wo er
denn, ohne einiges Ende zu befuͤrchten, ewig in Geſellſchaft
ſeines Dortchens die hoͤchſte Gluͤckſeligkeit, deren der Menſch
nur faͤhig iſt, wuͤrde zu genießen haben. Dieſer große Ge-
danke zog eine ganze Lebensaͤnderung nach ſich, wozu folgen-
der Vorfall noch ein Großes mit beitrug. Etliche Stunden
von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches
durch eine Erbſchaft an einen gewiſſen Grafen gefallen war.
Auf dieſem Schloß hatte ſich eine Geſellſchaft frommer Leute
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/69>, abgerufen am 24.11.2024.
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