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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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diesen Grundtrieb gesucht und gewollt hätte, das wird nun wohl
Niemand einfallen -- daß ihn mein Vater zum Zweck gehabt
habe, ist lächerlich, der wollte erstlich einen christlichen frommen
Menschen, und dann einen tüchtigen Schulmeister aus mir ma-
chen; und da dieser Beruf in meinem Vaterlande keinen Haus-
vater mit Frau und Kindern ernährt, so sollte ich sein Hand-
werk dazu lernen, um dann ehrlich durch die Welt kommen zu
können. Daß er mir solche Geschichten zum lesen gab geschah
deßwegen, weil doch Kinder etwas Unterhaltendes haben müssen,
und dann sollte es mir Lust machen, ein wahrer Christ zu wer-
den. Daß aber jener Grundtrieb daraus entstand, das war
die Absicht nicht eines blinden Ohngefährs, nicht meines Va-
ters, nicht die meinige, sondern des großen Weltregenten, der
mich dereinst brauchen wollte.

Ich setze also fest, daß Gott nicht durch natür-
liche Anlagen, sondern durch seine weise Leitung
und Regierung ganz allein jenen Grundtrieb, ins
Große und Ganze für Jesum Christum und sein
Reich zu leben und zu wirken, meinem Wesen ein-
gegeistert, und zur eigenthümlichen Eigenschaft
gemacht habe
.

Da aber nun mein natürlicher Grundtrieb: ins Große
und Ganze gehender höchstleichtsinniger Genuß
physischer und geistiger sinnlicher Vergnügen
, je-
nem mir eingeimpften Grundtrieb schnurgerade zuwider wirkte,
so fing mein himmlischer Führer schon früh an, diesen beschwer-
lichen Feind zu bekämpfen: das Werkzeug dazu war ebenfalls
mein Vater, aber wiederum ohne es nur von Ferne zu ahnen:
denn er wußte meinen natürlichen Grundtrieb ganz und gar nicht,
sonst hätte er ganz gewiß Klippen vermieden, an denen ich un-
vermeidlich hätte scheitern müssen, wenn mich Gottes Vater-
hand nicht leicht hinüber geführt hätte. Von dem Allem ahnete
aber mein Vater nichts -- bloß aus dem mystischen Grundsatz
der Abtödtung des Fleisches, wurde ich fast täglich mit der Ruthe
gehauen -- Ja ich weiß ganz gewiß, daß er mich manchmal
bloß deßwegen gezüchtiget hat, um seine Liebe zu mir zu kreu-
zigen und zu verläugnen. Bei jedem Andern hätte diese Art

dieſen Grundtrieb geſucht und gewollt haͤtte, das wird nun wohl
Niemand einfallen — daß ihn mein Vater zum Zweck gehabt
habe, iſt laͤcherlich, der wollte erſtlich einen chriſtlichen frommen
Menſchen, und dann einen tuͤchtigen Schulmeiſter aus mir ma-
chen; und da dieſer Beruf in meinem Vaterlande keinen Haus-
vater mit Frau und Kindern ernaͤhrt, ſo ſollte ich ſein Hand-
werk dazu lernen, um dann ehrlich durch die Welt kommen zu
koͤnnen. Daß er mir ſolche Geſchichten zum leſen gab geſchah
deßwegen, weil doch Kinder etwas Unterhaltendes haben muͤſſen,
und dann ſollte es mir Luſt machen, ein wahrer Chriſt zu wer-
den. Daß aber jener Grundtrieb daraus entſtand, das war
die Abſicht nicht eines blinden Ohngefaͤhrs, nicht meines Va-
ters, nicht die meinige, ſondern des großen Weltregenten, der
mich dereinſt brauchen wollte.

Ich ſetze alſo feſt, daß Gott nicht durch natuͤr-
liche Anlagen, ſondern durch ſeine weiſe Leitung
und Regierung ganz allein jenen Grundtrieb, ins
Große und Ganze fuͤr Jeſum Chriſtum und ſein
Reich zu leben und zu wirken, meinem Weſen ein-
gegeiſtert, und zur eigenthuͤmlichen Eigenſchaft
gemacht habe
.

Da aber nun mein natuͤrlicher Grundtrieb: ins Große
und Ganze gehender hoͤchſtleichtſinniger Genuß
phyſiſcher und geiſtiger ſinnlicher Vergnuͤgen
, je-
nem mir eingeimpften Grundtrieb ſchnurgerade zuwider wirkte,
ſo fing mein himmliſcher Fuͤhrer ſchon fruͤh an, dieſen beſchwer-
lichen Feind zu bekaͤmpfen: das Werkzeug dazu war ebenfalls
mein Vater, aber wiederum ohne es nur von Ferne zu ahnen:
denn er wußte meinen natuͤrlichen Grundtrieb ganz und gar nicht,
ſonſt haͤtte er ganz gewiß Klippen vermieden, an denen ich un-
vermeidlich haͤtte ſcheitern muͤſſen, wenn mich Gottes Vater-
hand nicht leicht hinuͤber gefuͤhrt haͤtte. Von dem Allem ahnete
aber mein Vater nichts — bloß aus dem myſtiſchen Grundſatz
der Abtoͤdtung des Fleiſches, wurde ich faſt taͤglich mit der Ruthe
gehauen — Ja ich weiß ganz gewiß, daß er mich manchmal
bloß deßwegen gezuͤchtiget hat, um ſeine Liebe zu mir zu kreu-
zigen und zu verlaͤugnen. Bei jedem Andern haͤtte dieſe Art

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[588/0596] dieſen Grundtrieb geſucht und gewollt haͤtte, das wird nun wohl Niemand einfallen — daß ihn mein Vater zum Zweck gehabt habe, iſt laͤcherlich, der wollte erſtlich einen chriſtlichen frommen Menſchen, und dann einen tuͤchtigen Schulmeiſter aus mir ma- chen; und da dieſer Beruf in meinem Vaterlande keinen Haus- vater mit Frau und Kindern ernaͤhrt, ſo ſollte ich ſein Hand- werk dazu lernen, um dann ehrlich durch die Welt kommen zu koͤnnen. Daß er mir ſolche Geſchichten zum leſen gab geſchah deßwegen, weil doch Kinder etwas Unterhaltendes haben muͤſſen, und dann ſollte es mir Luſt machen, ein wahrer Chriſt zu wer- den. Daß aber jener Grundtrieb daraus entſtand, das war die Abſicht nicht eines blinden Ohngefaͤhrs, nicht meines Va- ters, nicht die meinige, ſondern des großen Weltregenten, der mich dereinſt brauchen wollte. Ich ſetze alſo feſt, daß Gott nicht durch natuͤr- liche Anlagen, ſondern durch ſeine weiſe Leitung und Regierung ganz allein jenen Grundtrieb, ins Große und Ganze fuͤr Jeſum Chriſtum und ſein Reich zu leben und zu wirken, meinem Weſen ein- gegeiſtert, und zur eigenthuͤmlichen Eigenſchaft gemacht habe. Da aber nun mein natuͤrlicher Grundtrieb: ins Große und Ganze gehender hoͤchſtleichtſinniger Genuß phyſiſcher und geiſtiger ſinnlicher Vergnuͤgen, je- nem mir eingeimpften Grundtrieb ſchnurgerade zuwider wirkte, ſo fing mein himmliſcher Fuͤhrer ſchon fruͤh an, dieſen beſchwer- lichen Feind zu bekaͤmpfen: das Werkzeug dazu war ebenfalls mein Vater, aber wiederum ohne es nur von Ferne zu ahnen: denn er wußte meinen natuͤrlichen Grundtrieb ganz und gar nicht, ſonſt haͤtte er ganz gewiß Klippen vermieden, an denen ich un- vermeidlich haͤtte ſcheitern muͤſſen, wenn mich Gottes Vater- hand nicht leicht hinuͤber gefuͤhrt haͤtte. Von dem Allem ahnete aber mein Vater nichts — bloß aus dem myſtiſchen Grundſatz der Abtoͤdtung des Fleiſches, wurde ich faſt taͤglich mit der Ruthe gehauen — Ja ich weiß ganz gewiß, daß er mich manchmal bloß deßwegen gezuͤchtiget hat, um ſeine Liebe zu mir zu kreu- zigen und zu verlaͤugnen. Bei jedem Andern haͤtte dieſe Art

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/596>, abgerufen am 23.11.2024.