und gebrechlichen Füße waren aufgebrochen und voller eitern- der und fauler Geschwüre, und dann fingen auch seine Seelen- kräfte an zu schwinden, besonders nahm sein Gedächtniß außer- ordentlich ab.
Endlich im August 1796 bekam Stilling einen Brief von einem Verwandten, der den frommen Alten besucht und allen seinen Jammer gesehen hatte. Dieser Brief enthielt die Schilderung des Elends und die Aufforderung an Stilling, er möchte seinen Vater zu sich nehmen, ehe er im Leiden ver- ginge. Das hatte Stilling nicht gewußt. -- Auf der Stelle schickte er hin und ließ ihn nach Marburg fahren. Als man ihm nun zu Ockershausen ansagte, sein Vater sey in seinem Hause zu Marburg, so eilte er hin, um ihn zu be- willkommen. Aber, du großer Gott! welch ein Jammer! -- so wie er ins Zimmer trat, kam ihm ein Pesthauch entgegen, wie er ihn noch nie in einem anatomischen Theater empfun- den hatte. Kaum konnte er sich ihm nahen, um ihn zu küs- sen und zu umarmen -- das Elend war größer, als ich es beschreiben kann. Es war eine Wohlthat für den guten Va- ter, daß damals seine Verstandeskräfte schon so abgenommen hatten, daß er sein Elend nicht sonderlich empfand. Einige Jahre früher wäre es ihm bei seinem Ehrgefühl und gewohn- ten Reinlichkeit unerträglich gewesen.
Stillingen blutete das Herz bei seinem Anblick; aber Elise, die so oft gewünscht hatte, daß ihr doch das Glück werden möchte, ihre Eltern in ihrem Alter zu pflegen, griff das Werk mit Freuden an; man hat von jeher so viel Rüh- mens von den Heiligen der katholischen Kirche gemacht, und ihnen das besonders hoch angerechnet, daß sie in den Hospi- tälern und Lazarethen die stinkenden Geschwüre der armen Kranken verbunden hatten -- hier geschah mehr -- weit mehr -- Du willst durchaus nicht, daß ich hier etwas zu deinem Ruhme sagen soll, edles gutes Weib! -- nun ich schweige -- aber Vater Wilhelm, der nicht mehr so viel bei Verstand war, daß er deine beispiellose Kindesliebe erken- nen und dich dafür segnen konnte, wird dir dereinst in ver-
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 33
und gebrechlichen Fuͤße waren aufgebrochen und voller eitern- der und fauler Geſchwuͤre, und dann fingen auch ſeine Seelen- kraͤfte an zu ſchwinden, beſonders nahm ſein Gedaͤchtniß außer- ordentlich ab.
Endlich im Auguſt 1796 bekam Stilling einen Brief von einem Verwandten, der den frommen Alten beſucht und allen ſeinen Jammer geſehen hatte. Dieſer Brief enthielt die Schilderung des Elends und die Aufforderung an Stilling, er moͤchte ſeinen Vater zu ſich nehmen, ehe er im Leiden ver- ginge. Das hatte Stilling nicht gewußt. — Auf der Stelle ſchickte er hin und ließ ihn nach Marburg fahren. Als man ihm nun zu Ockershauſen anſagte, ſein Vater ſey in ſeinem Hauſe zu Marburg, ſo eilte er hin, um ihn zu be- willkommen. Aber, du großer Gott! welch ein Jammer! — ſo wie er ins Zimmer trat, kam ihm ein Peſthauch entgegen, wie er ihn noch nie in einem anatomiſchen Theater empfun- den hatte. Kaum konnte er ſich ihm nahen, um ihn zu kuͤſ- ſen und zu umarmen — das Elend war groͤßer, als ich es beſchreiben kann. Es war eine Wohlthat fuͤr den guten Va- ter, daß damals ſeine Verſtandeskraͤfte ſchon ſo abgenommen hatten, daß er ſein Elend nicht ſonderlich empfand. Einige Jahre fruͤher waͤre es ihm bei ſeinem Ehrgefuͤhl und gewohn- ten Reinlichkeit unertraͤglich geweſen.
Stillingen blutete das Herz bei ſeinem Anblick; aber Eliſe, die ſo oft gewuͤnſcht hatte, daß ihr doch das Gluͤck werden moͤchte, ihre Eltern in ihrem Alter zu pflegen, griff das Werk mit Freuden an; man hat von jeher ſo viel Ruͤh- mens von den Heiligen der katholiſchen Kirche gemacht, und ihnen das beſonders hoch angerechnet, daß ſie in den Hoſpi- taͤlern und Lazarethen die ſtinkenden Geſchwuͤre der armen Kranken verbunden hatten — hier geſchah mehr — weit mehr — Du willſt durchaus nicht, daß ich hier etwas zu deinem Ruhme ſagen ſoll, edles gutes Weib! — nun ich ſchweige — aber Vater Wilhelm, der nicht mehr ſo viel bei Verſtand war, daß er deine beiſpielloſe Kindesliebe erken- nen und dich dafuͤr ſegnen konnte, wird dir dereinſt in ver-
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 33
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0509"n="501"/>
und gebrechlichen Fuͤße waren aufgebrochen und voller eitern-<lb/>
der und fauler Geſchwuͤre, und dann fingen auch ſeine Seelen-<lb/>
kraͤfte an zu ſchwinden, beſonders nahm ſein Gedaͤchtniß außer-<lb/>
ordentlich ab.</p><lb/><p>Endlich im Auguſt 1796 bekam <hirendition="#g">Stilling</hi> einen Brief<lb/>
von einem Verwandten, der den frommen Alten beſucht und<lb/>
allen ſeinen Jammer geſehen hatte. Dieſer Brief enthielt die<lb/>
Schilderung des Elends und die Aufforderung an <hirendition="#g">Stilling</hi>,<lb/>
er moͤchte ſeinen Vater zu ſich nehmen, ehe er im Leiden ver-<lb/>
ginge. Das hatte <hirendition="#g">Stilling</hi> nicht gewußt. — Auf der Stelle<lb/>ſchickte er hin und ließ ihn nach <hirendition="#g">Marburg</hi> fahren. Als<lb/>
man ihm nun zu <hirendition="#g">Ockershauſen</hi> anſagte, ſein Vater ſey in<lb/>ſeinem Hauſe zu <hirendition="#g">Marburg</hi>, ſo eilte er hin, um ihn zu be-<lb/>
willkommen. Aber, du großer Gott! welch ein Jammer! —<lb/>ſo wie er ins Zimmer trat, kam ihm ein Peſthauch entgegen,<lb/>
wie er ihn noch nie in einem anatomiſchen Theater empfun-<lb/>
den hatte. Kaum konnte er ſich ihm nahen, um ihn zu kuͤſ-<lb/>ſen und zu umarmen — das Elend war groͤßer, als ich es<lb/>
beſchreiben kann. Es war eine Wohlthat fuͤr den guten Va-<lb/>
ter, daß damals ſeine Verſtandeskraͤfte ſchon ſo abgenommen<lb/>
hatten, daß er ſein Elend nicht ſonderlich empfand. Einige<lb/>
Jahre fruͤher waͤre es ihm bei ſeinem Ehrgefuͤhl und gewohn-<lb/>
ten Reinlichkeit unertraͤglich geweſen.</p><lb/><p><hirendition="#g">Stillingen</hi> blutete das Herz bei ſeinem Anblick; aber<lb/><hirendition="#g">Eliſe</hi>, die ſo oft gewuͤnſcht hatte, daß ihr doch das Gluͤck<lb/>
werden moͤchte, ihre Eltern in ihrem Alter zu pflegen, griff<lb/>
das Werk mit Freuden an; man hat von jeher ſo viel Ruͤh-<lb/>
mens von den Heiligen der katholiſchen Kirche gemacht, und<lb/>
ihnen <hirendition="#g">das</hi> beſonders hoch angerechnet, daß ſie in den Hoſpi-<lb/>
taͤlern und Lazarethen die ſtinkenden Geſchwuͤre der armen<lb/>
Kranken verbunden hatten — hier geſchah <hirendition="#g">mehr — weit<lb/>
mehr</hi>— Du willſt durchaus nicht, daß ich hier etwas zu<lb/>
deinem Ruhme ſagen ſoll, edles gutes Weib! — nun ich<lb/>ſchweige — aber Vater <hirendition="#g">Wilhelm</hi>, der nicht mehr ſo viel<lb/>
bei Verſtand war, daß er deine beiſpielloſe Kindesliebe erken-<lb/>
nen und dich dafuͤr ſegnen konnte, wird dir dereinſt in ver-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Stillings ſämmtl. Schriften. <hirendition="#aq">I.</hi> Band. 33</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[501/0509]
und gebrechlichen Fuͤße waren aufgebrochen und voller eitern-
der und fauler Geſchwuͤre, und dann fingen auch ſeine Seelen-
kraͤfte an zu ſchwinden, beſonders nahm ſein Gedaͤchtniß außer-
ordentlich ab.
Endlich im Auguſt 1796 bekam Stilling einen Brief
von einem Verwandten, der den frommen Alten beſucht und
allen ſeinen Jammer geſehen hatte. Dieſer Brief enthielt die
Schilderung des Elends und die Aufforderung an Stilling,
er moͤchte ſeinen Vater zu ſich nehmen, ehe er im Leiden ver-
ginge. Das hatte Stilling nicht gewußt. — Auf der Stelle
ſchickte er hin und ließ ihn nach Marburg fahren. Als
man ihm nun zu Ockershauſen anſagte, ſein Vater ſey in
ſeinem Hauſe zu Marburg, ſo eilte er hin, um ihn zu be-
willkommen. Aber, du großer Gott! welch ein Jammer! —
ſo wie er ins Zimmer trat, kam ihm ein Peſthauch entgegen,
wie er ihn noch nie in einem anatomiſchen Theater empfun-
den hatte. Kaum konnte er ſich ihm nahen, um ihn zu kuͤſ-
ſen und zu umarmen — das Elend war groͤßer, als ich es
beſchreiben kann. Es war eine Wohlthat fuͤr den guten Va-
ter, daß damals ſeine Verſtandeskraͤfte ſchon ſo abgenommen
hatten, daß er ſein Elend nicht ſonderlich empfand. Einige
Jahre fruͤher waͤre es ihm bei ſeinem Ehrgefuͤhl und gewohn-
ten Reinlichkeit unertraͤglich geweſen.
Stillingen blutete das Herz bei ſeinem Anblick; aber
Eliſe, die ſo oft gewuͤnſcht hatte, daß ihr doch das Gluͤck
werden moͤchte, ihre Eltern in ihrem Alter zu pflegen, griff
das Werk mit Freuden an; man hat von jeher ſo viel Ruͤh-
mens von den Heiligen der katholiſchen Kirche gemacht, und
ihnen das beſonders hoch angerechnet, daß ſie in den Hoſpi-
taͤlern und Lazarethen die ſtinkenden Geſchwuͤre der armen
Kranken verbunden hatten — hier geſchah mehr — weit
mehr — Du willſt durchaus nicht, daß ich hier etwas zu
deinem Ruhme ſagen ſoll, edles gutes Weib! — nun ich
ſchweige — aber Vater Wilhelm, der nicht mehr ſo viel
bei Verſtand war, daß er deine beiſpielloſe Kindesliebe erken-
nen und dich dafuͤr ſegnen konnte, wird dir dereinſt in ver-
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 33
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/509>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.