Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

sche System sollte dann, par honneur de lettre, christ-
liche Religionslehre
heißen, um Christum und seine wah-
ren Verehrer nicht gar zu sehr vor den Kopf zu stoßen. So
entstand unsere heut zu Tag so hoch gepriesene Aufklärung
und die Neologie der christlichen Religion.

Ich bitte aber recht sehr, mich nicht mißzuverstehen! --
Vorsätzlich wollte keiner dieser Männer zwischen Christo
und Belial -- Frieden stiften, zumal, da man die Existenz
des Letztern nicht mehr glaubte; sondern die von Jugend auf
unvermerkt ins Wesen des menschlichen Denkens, Urtheilens
und Schließens eingeschlichene Grundlage aller menschlichen
Vorstellungen, die sich -- wenn man nicht sehr wachsam ist,
uns ganz unwillkührlich durch den Geist der Zeit aufdringt,
alterirte das Moralprinzip und die Vernunft dergestalt, daß
man nun Vieles in der Bibel abergläubisch, lächerlich und
abgeschmackt fand und sich daher über alles wegsetzte, und
nun mit solchen verfälschten Prinzipien und alterirten Prü-
fungsorganen die Revision der Bibel, dieses uralten
Heiligthums -- das kühnste Wagstück unter allen -- unter-
nahm. So entstand nun der Beginn des großen Abfalls, den
Christus und seine Apostel, und vorzüglich Paulus, so be-
stimmt vorausgesagt und zugleich bemerkt haben, daß bald
darauf der Mensch der Sünden, der Menschgewor-
dene Satan
erscheinen und durch plötzliche Ankunft des
Herrn in den Abgrund geschleudert werden sollte.

Dieß große und bedeutende Ganze in Stillings Vor-
stellungen von der gegenwärtigen Lage des Christenthums und
des Reichs Gottes hatte sich während einer großen Reihe von
Jahren, theils durchs Studium der Geschichte, theils durch
Beobachtung der Zeichen der Zeit, theils durch fleißiges Lesen
und Betrachten der biblischen Weissagungen, und theils durch
Mittheilungen, im Verborgenen großer Männer, nach und
nach gebildet, und seine Wichtigkeit erfüllte seine Seele; hiezu
kam nun eine andere, nicht weniger wichtige Bemerkung, die
mit jenem im Einklang stand.

Er hatte das Entstehen eines großen Bündnisses unter Men-
schen von allen Ständen bemerkt, seinen Wachsthum und Fort-

ſche Syſtem ſollte dann, par honneur de lettre, chriſt-
liche Religionslehre
heißen, um Chriſtum und ſeine wah-
ren Verehrer nicht gar zu ſehr vor den Kopf zu ſtoßen. So
entſtand unſere heut zu Tag ſo hoch geprieſene Aufklaͤrung
und die Neologie der chriſtlichen Religion.

Ich bitte aber recht ſehr, mich nicht mißzuverſtehen! —
Vorſaͤtzlich wollte keiner dieſer Maͤnner zwiſchen Chriſto
und Belial — Frieden ſtiften, zumal, da man die Exiſtenz
des Letztern nicht mehr glaubte; ſondern die von Jugend auf
unvermerkt ins Weſen des menſchlichen Denkens, Urtheilens
und Schließens eingeſchlichene Grundlage aller menſchlichen
Vorſtellungen, die ſich — wenn man nicht ſehr wachſam iſt,
uns ganz unwillkuͤhrlich durch den Geiſt der Zeit aufdringt,
alterirte das Moralprinzip und die Vernunft dergeſtalt, daß
man nun Vieles in der Bibel aberglaͤubiſch, laͤcherlich und
abgeſchmackt fand und ſich daher uͤber alles wegſetzte, und
nun mit ſolchen verfaͤlſchten Prinzipien und alterirten Pruͤ-
fungsorganen die Reviſion der Bibel, dieſes uralten
Heiligthums — das kuͤhnſte Wagſtuͤck unter allen — unter-
nahm. So entſtand nun der Beginn des großen Abfalls, den
Chriſtus und ſeine Apoſtel, und vorzuͤglich Paulus, ſo be-
ſtimmt vorausgeſagt und zugleich bemerkt haben, daß bald
darauf der Menſch der Suͤnden, der Menſchgewor-
dene Satan
erſcheinen und durch ploͤtzliche Ankunft des
Herrn in den Abgrund geſchleudert werden ſollte.

Dieß große und bedeutende Ganze in Stillings Vor-
ſtellungen von der gegenwaͤrtigen Lage des Chriſtenthums und
des Reichs Gottes hatte ſich waͤhrend einer großen Reihe von
Jahren, theils durchs Studium der Geſchichte, theils durch
Beobachtung der Zeichen der Zeit, theils durch fleißiges Leſen
und Betrachten der bibliſchen Weiſſagungen, und theils durch
Mittheilungen, im Verborgenen großer Maͤnner, nach und
nach gebildet, und ſeine Wichtigkeit erfuͤllte ſeine Seele; hiezu
kam nun eine andere, nicht weniger wichtige Bemerkung, die
mit jenem im Einklang ſtand.

Er hatte das Entſtehen eines großen Buͤndniſſes unter Men-
ſchen von allen Staͤnden bemerkt, ſeinen Wachsthum und Fort-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0483" n="475"/>
&#x017F;che</hi> Sy&#x017F;tem &#x017F;ollte dann, <hi rendition="#aq">par honneur de lettre,</hi> <hi rendition="#g">chri&#x017F;t-<lb/>
liche Religionslehre</hi> heißen, um Chri&#x017F;tum und &#x017F;eine wah-<lb/>
ren Verehrer nicht gar zu &#x017F;ehr vor den Kopf zu &#x017F;toßen. So<lb/>
ent&#x017F;tand un&#x017F;ere heut zu Tag &#x017F;o hoch geprie&#x017F;ene Aufkla&#x0364;rung<lb/>
und die Neologie der chri&#x017F;tlichen Religion.</p><lb/>
            <p>Ich bitte aber recht &#x017F;ehr, mich nicht mißzuver&#x017F;tehen! &#x2014;<lb/><hi rendition="#g">Vor&#x017F;a&#x0364;tzlich</hi> wollte keiner die&#x017F;er Ma&#x0364;nner zwi&#x017F;chen Chri&#x017F;to<lb/>
und Belial &#x2014; Frieden &#x017F;tiften, zumal, da man die Exi&#x017F;tenz<lb/>
des Letztern nicht mehr glaubte; &#x017F;ondern die von Jugend auf<lb/><hi rendition="#g">unvermerkt</hi> ins We&#x017F;en des men&#x017F;chlichen Denkens, Urtheilens<lb/>
und Schließens einge&#x017F;chlichene Grundlage aller men&#x017F;chlichen<lb/>
Vor&#x017F;tellungen, die &#x017F;ich &#x2014; wenn man nicht &#x017F;ehr wach&#x017F;am i&#x017F;t,<lb/>
uns ganz unwillku&#x0364;hrlich durch den Gei&#x017F;t der Zeit aufdringt,<lb/>
alterirte das Moralprinzip und die Vernunft derge&#x017F;talt, daß<lb/>
man nun Vieles in der Bibel abergla&#x0364;ubi&#x017F;ch, la&#x0364;cherlich und<lb/>
abge&#x017F;chmackt fand und &#x017F;ich daher u&#x0364;ber alles weg&#x017F;etzte, und<lb/>
nun mit &#x017F;olchen verfa&#x0364;l&#x017F;chten Prinzipien und alterirten Pru&#x0364;-<lb/>
fungsorganen <hi rendition="#g">die Revi&#x017F;ion der Bibel</hi>, die&#x017F;es uralten<lb/>
Heiligthums &#x2014; das ku&#x0364;hn&#x017F;te Wag&#x017F;tu&#x0364;ck unter allen &#x2014; unter-<lb/>
nahm. So ent&#x017F;tand nun der Beginn des großen Abfalls, den<lb/>
Chri&#x017F;tus und &#x017F;eine Apo&#x017F;tel, und vorzu&#x0364;glich Paulus, &#x017F;o be-<lb/>
&#x017F;timmt vorausge&#x017F;agt und zugleich bemerkt haben, daß bald<lb/>
darauf der <hi rendition="#g">Men&#x017F;ch der Su&#x0364;nden, der Men&#x017F;chgewor-<lb/>
dene Satan</hi> er&#x017F;cheinen und durch plo&#x0364;tzliche Ankunft des<lb/>
Herrn in den Abgrund ge&#x017F;chleudert werden &#x017F;ollte.</p><lb/>
            <p>Dieß große und bedeutende Ganze in <hi rendition="#g">Stillings</hi> Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen von der gegenwa&#x0364;rtigen Lage des Chri&#x017F;tenthums und<lb/>
des Reichs Gottes hatte &#x017F;ich wa&#x0364;hrend einer großen Reihe von<lb/>
Jahren, theils durchs Studium der Ge&#x017F;chichte, theils durch<lb/>
Beobachtung der Zeichen der Zeit, theils durch fleißiges Le&#x017F;en<lb/>
und Betrachten der bibli&#x017F;chen Wei&#x017F;&#x017F;agungen, und theils durch<lb/>
Mittheilungen, im Verborgenen großer Ma&#x0364;nner, nach und<lb/>
nach gebildet, und &#x017F;eine Wichtigkeit erfu&#x0364;llte &#x017F;eine Seele; hiezu<lb/>
kam nun eine andere, nicht weniger wichtige Bemerkung, die<lb/>
mit jenem im Einklang &#x017F;tand.</p><lb/>
            <p>Er hatte das Ent&#x017F;tehen eines großen Bu&#x0364;ndni&#x017F;&#x017F;es unter Men-<lb/>
&#x017F;chen von allen Sta&#x0364;nden bemerkt, &#x017F;einen Wachsthum und Fort-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[475/0483] ſche Syſtem ſollte dann, par honneur de lettre, chriſt- liche Religionslehre heißen, um Chriſtum und ſeine wah- ren Verehrer nicht gar zu ſehr vor den Kopf zu ſtoßen. So entſtand unſere heut zu Tag ſo hoch geprieſene Aufklaͤrung und die Neologie der chriſtlichen Religion. Ich bitte aber recht ſehr, mich nicht mißzuverſtehen! — Vorſaͤtzlich wollte keiner dieſer Maͤnner zwiſchen Chriſto und Belial — Frieden ſtiften, zumal, da man die Exiſtenz des Letztern nicht mehr glaubte; ſondern die von Jugend auf unvermerkt ins Weſen des menſchlichen Denkens, Urtheilens und Schließens eingeſchlichene Grundlage aller menſchlichen Vorſtellungen, die ſich — wenn man nicht ſehr wachſam iſt, uns ganz unwillkuͤhrlich durch den Geiſt der Zeit aufdringt, alterirte das Moralprinzip und die Vernunft dergeſtalt, daß man nun Vieles in der Bibel aberglaͤubiſch, laͤcherlich und abgeſchmackt fand und ſich daher uͤber alles wegſetzte, und nun mit ſolchen verfaͤlſchten Prinzipien und alterirten Pruͤ- fungsorganen die Reviſion der Bibel, dieſes uralten Heiligthums — das kuͤhnſte Wagſtuͤck unter allen — unter- nahm. So entſtand nun der Beginn des großen Abfalls, den Chriſtus und ſeine Apoſtel, und vorzuͤglich Paulus, ſo be- ſtimmt vorausgeſagt und zugleich bemerkt haben, daß bald darauf der Menſch der Suͤnden, der Menſchgewor- dene Satan erſcheinen und durch ploͤtzliche Ankunft des Herrn in den Abgrund geſchleudert werden ſollte. Dieß große und bedeutende Ganze in Stillings Vor- ſtellungen von der gegenwaͤrtigen Lage des Chriſtenthums und des Reichs Gottes hatte ſich waͤhrend einer großen Reihe von Jahren, theils durchs Studium der Geſchichte, theils durch Beobachtung der Zeichen der Zeit, theils durch fleißiges Leſen und Betrachten der bibliſchen Weiſſagungen, und theils durch Mittheilungen, im Verborgenen großer Maͤnner, nach und nach gebildet, und ſeine Wichtigkeit erfuͤllte ſeine Seele; hiezu kam nun eine andere, nicht weniger wichtige Bemerkung, die mit jenem im Einklang ſtand. Er hatte das Entſtehen eines großen Buͤndniſſes unter Men- ſchen von allen Staͤnden bemerkt, ſeinen Wachsthum und Fort-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/483
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/483>, abgerufen am 24.06.2024.