vieler Hochachtung und mit Enthusiasmus von ihr redete. Stilling war von jeher den Herruhutern gut gewesen, ob er gleich noch viele Vorurtheile gegen sie hatte: denn er war bisher mit lauter Erweckten umgegangen, die Vieles an der Brüdergemeine auszusetzen hatten, und selbst hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu prüfen. Bei allem dem war sie ihm wegen ihrer Missions-Anstalten sehr ehrwürdig.
Der damals regierende Fürst Johann Friedrich Alexan- der, berühmt durch seine Weisheit und Duldungs-Maximen, ein bejahrter Greis, war mit seiner Gemahlin auf seinem Lustschloß Monrepos, welches zwo Stunden von der Stadt entfernt ist, und das Thal hinauf oben am Berg liegt, von wo aus man eine unvergleichliche Aussicht hat. An einem schönen Tage ließ er die beiden Marburger Professoren, Erxleben und Stilling, in seiner Equipage holen; sie speisten zu Mittag mit diesem Fürstenpaar, und kehrten am Abend wieder nach Neuwied zurück. Hier entstand eine vertrauliche religiöse Bekanntschaft zwischen der alten Fürstin und Stilling, die durch einen sehr fleißigen Briefwechsel bis zu ihrem Uebergang ins bessere Leben unterhalten wurde; sie war eine geborne Burggräfin von Kirchberg, eine sehr fromme und verständige Dame: Stilling freute sich auf ih- ren Willkomm in den seligen Gefilden des Reichs Gottes.
Nachdem auch hier wieder Stilling einige Tage lang Blin- den gedient hatte, so reiste er in Begleitung seines Freundes und Kollegen Erxleben wieder nach Marburg zurück.
In Wetzlar glaubte Stilling ganz gewiß einen Brief von Selma zu finden, aber er fand keinen. Bei seinem Ein- tritt ins Pfarrhaus bemerkte er an Freund Machenhauer und seiner Gattin eine gewisse Verlegenheit; schnell fragte er, ob kein Brief von Selma da sey? Nein! antwortete sie, Selma ist nicht wohl, doch ist sie nicht gefährlich krank; dies sollen wir Ihnen nebst ihrem Gruß sagen. Dieß war für Stilling genug: im Augenblick nahm er Extrapost, und kam am Nachmittag in Marburg an.
Ganz unerwartet begegnete ihm seine Tochter Hannchen im Vorhaus; sie war ein halb Jahr bei Selma's Geschwi-
vieler Hochachtung und mit Enthuſiasmus von ihr redete. Stilling war von jeher den Herruhutern gut geweſen, ob er gleich noch viele Vorurtheile gegen ſie hatte: denn er war bisher mit lauter Erweckten umgegangen, die Vieles an der Bruͤdergemeine auszuſetzen hatten, und ſelbſt hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, ſie zu pruͤfen. Bei allem dem war ſie ihm wegen ihrer Miſſions-Anſtalten ſehr ehrwuͤrdig.
Der damals regierende Fuͤrſt Johann Friedrich Alexan- der, beruͤhmt durch ſeine Weisheit und Duldungs-Maximen, ein bejahrter Greis, war mit ſeiner Gemahlin auf ſeinem Luſtſchloß Monrepos, welches zwo Stunden von der Stadt entfernt iſt, und das Thal hinauf oben am Berg liegt, von wo aus man eine unvergleichliche Ausſicht hat. An einem ſchoͤnen Tage ließ er die beiden Marburger Profeſſoren, Erxleben und Stilling, in ſeiner Equipage holen; ſie ſpeisten zu Mittag mit dieſem Fuͤrſtenpaar, und kehrten am Abend wieder nach Neuwied zuruͤck. Hier entſtand eine vertrauliche religioͤſe Bekanntſchaft zwiſchen der alten Fuͤrſtin und Stilling, die durch einen ſehr fleißigen Briefwechſel bis zu ihrem Uebergang ins beſſere Leben unterhalten wurde; ſie war eine geborne Burggraͤfin von Kirchberg, eine ſehr fromme und verſtaͤndige Dame: Stilling freute ſich auf ih- ren Willkomm in den ſeligen Gefilden des Reichs Gottes.
Nachdem auch hier wieder Stilling einige Tage lang Blin- den gedient hatte, ſo reiste er in Begleitung ſeines Freundes und Kollegen Erxleben wieder nach Marburg zuruͤck.
In Wetzlar glaubte Stilling ganz gewiß einen Brief von Selma zu finden, aber er fand keinen. Bei ſeinem Ein- tritt ins Pfarrhaus bemerkte er an Freund Machenhauer und ſeiner Gattin eine gewiſſe Verlegenheit; ſchnell fragte er, ob kein Brief von Selma da ſey? Nein! antwortete ſie, Selma iſt nicht wohl, doch iſt ſie nicht gefaͤhrlich krank; dies ſollen wir Ihnen nebſt ihrem Gruß ſagen. Dieß war fuͤr Stilling genug: im Augenblick nahm er Extrapoſt, und kam am Nachmittag in Marburg an.
Ganz unerwartet begegnete ihm ſeine Tochter Hannchen im Vorhaus; ſie war ein halb Jahr bei Selma’s Geſchwi-
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Stilling war von jeher den Herruhutern gut geweſen,
ob er gleich noch viele Vorurtheile gegen ſie hatte: denn er
war bisher mit lauter Erweckten umgegangen, die Vieles an
der Bruͤdergemeine auszuſetzen hatten, und ſelbſt hatte er noch
keine Gelegenheit gehabt, ſie zu pruͤfen. Bei allem dem war
ſie ihm wegen ihrer Miſſions-Anſtalten ſehr ehrwuͤrdig.
Der damals regierende Fuͤrſt Johann Friedrich Alexan-
der, beruͤhmt durch ſeine Weisheit und Duldungs-Maximen,
ein bejahrter Greis, war mit ſeiner Gemahlin auf ſeinem
Luſtſchloß Monrepos, welches zwo Stunden von der Stadt
entfernt iſt, und das Thal hinauf oben am Berg liegt, von
wo aus man eine unvergleichliche Ausſicht hat. An einem
ſchoͤnen Tage ließ er die beiden Marburger Profeſſoren,
Erxleben und Stilling, in ſeiner Equipage holen; ſie
ſpeisten zu Mittag mit dieſem Fuͤrſtenpaar, und kehrten am
Abend wieder nach Neuwied zuruͤck. Hier entſtand eine
vertrauliche religioͤſe Bekanntſchaft zwiſchen der alten Fuͤrſtin
und Stilling, die durch einen ſehr fleißigen Briefwechſel bis
zu ihrem Uebergang ins beſſere Leben unterhalten wurde; ſie
war eine geborne Burggraͤfin von Kirchberg, eine ſehr
fromme und verſtaͤndige Dame: Stilling freute ſich auf ih-
ren Willkomm in den ſeligen Gefilden des Reichs Gottes.
Nachdem auch hier wieder Stilling einige Tage lang Blin-
den gedient hatte, ſo reiste er in Begleitung ſeines Freundes
und Kollegen Erxleben wieder nach Marburg zuruͤck.
In Wetzlar glaubte Stilling ganz gewiß einen Brief
von Selma zu finden, aber er fand keinen. Bei ſeinem Ein-
tritt ins Pfarrhaus bemerkte er an Freund Machenhauer
und ſeiner Gattin eine gewiſſe Verlegenheit; ſchnell fragte er,
ob kein Brief von Selma da ſey? Nein! antwortete ſie,
Selma iſt nicht wohl, doch iſt ſie nicht gefaͤhrlich krank;
dies ſollen wir Ihnen nebſt ihrem Gruß ſagen. Dieß war
fuͤr Stilling genug: im Augenblick nahm er Extrapoſt, und
kam am Nachmittag in Marburg an.
Ganz unerwartet begegnete ihm ſeine Tochter Hannchen
im Vorhaus; ſie war ein halb Jahr bei Selma’s Geſchwi-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/460>, abgerufen am 25.11.2024.
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