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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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"Herr Mitvater, mir hat immer gedäucht, Ihr hättet bes-
ser gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge-
kehrt hättet."

Warum, Mitvater?

"Wenn Ihr Eure Uhrmacherei beständig getrieben hättet, so
hättet Ihr reichlich Euer Brod erwerben können; nun aber
hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was
Ihr hattet, ist noch dazu darauf gegangen."

Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt hätte,
daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen würden, eh' ich den
Stein der Weisen würde gefunden haben, so hätte ich mich
freilich bedacht, ehe ich's angefangen hätte. Nun aber, da
ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die
Erkenntnisse der Natur eingedrungen bin, nun würd' es mir
leid thun, wenn ich mich umsonst sollte lange geplagt haben.

"Ihr habt Euch gewiß so lange umsonst geplagt, denn Ihr
habt Euch einmal bisher kümmerlich beholfen. Ihr mögt nun
so reich werden als Ihr wollt, Ihr könnt doch das Elend so
vieler Jahre nicht in Glückseligkeit verwandeln; und zudem
glaub' ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich
die Wahrheit sagen soll, ich glaube nicht, daß es einen Stein
der Weisen gibt!"

Ich kann Euch beweisen, daß es einen Stein der Weisen
gibt. Ein gewisser Doktor Helvetius im Haag hat ein klein
Büchlein geschrieben, das güldene Kalb genannt: darin
ist es deutlich bewiesen, so daß Niemand, auch der größte
Ungläubige, wenn er's lieset, nicht mehr zweifeln kann. Ob
ich denselben aber bekommen werde, das ist eine andere Frage.
Warum nicht eben sowohl als ein Anderer? da er ein freies
Geschenk Gottes ist.

"Wenn Euch Gott den Stein der Weisen schenken wollte,
Ihr hättet ihn schon lange! Warum sollte er ihn Euch so
lange vorenthalten? Zudem ist's ja nicht nöthig, daß Ihr ihn
habt; wie viel Menschen leben ohne den Stein der Weisen!"

Das ist wahr; aber wir sollen uns so glücklich machen als
wir können.


„Herr Mitvater, mir hat immer gedaͤucht, Ihr haͤttet beſ-
ſer gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge-
kehrt haͤttet.“

Warum, Mitvater?

„Wenn Ihr Eure Uhrmacherei beſtaͤndig getrieben haͤttet, ſo
haͤttet Ihr reichlich Euer Brod erwerben koͤnnen; nun aber
hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was
Ihr hattet, iſt noch dazu darauf gegangen.“

Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt haͤtte,
daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen wuͤrden, eh’ ich den
Stein der Weiſen wuͤrde gefunden haben, ſo haͤtte ich mich
freilich bedacht, ehe ich’s angefangen haͤtte. Nun aber, da
ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die
Erkenntniſſe der Natur eingedrungen bin, nun wuͤrd’ es mir
leid thun, wenn ich mich umſonſt ſollte lange geplagt haben.

„Ihr habt Euch gewiß ſo lange umſonſt geplagt, denn Ihr
habt Euch einmal bisher kuͤmmerlich beholfen. Ihr moͤgt nun
ſo reich werden als Ihr wollt, Ihr koͤnnt doch das Elend ſo
vieler Jahre nicht in Gluͤckſeligkeit verwandeln; und zudem
glaub’ ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich
die Wahrheit ſagen ſoll, ich glaube nicht, daß es einen Stein
der Weiſen gibt!“

Ich kann Euch beweiſen, daß es einen Stein der Weiſen
gibt. Ein gewiſſer Doktor Helvetius im Haag hat ein klein
Buͤchlein geſchrieben, das guͤldene Kalb genannt: darin
iſt es deutlich bewieſen, ſo daß Niemand, auch der groͤßte
Ungläubige, wenn er’s lieſet, nicht mehr zweifeln kann. Ob
ich denſelben aber bekommen werde, das iſt eine andere Frage.
Warum nicht eben ſowohl als ein Anderer? da er ein freies
Geſchenk Gottes iſt.

„Wenn Euch Gott den Stein der Weiſen ſchenken wollte,
Ihr haͤttet ihn ſchon lange! Warum ſollte er ihn Euch ſo
lange vorenthalten? Zudem iſt’s ja nicht noͤthig, daß Ihr ihn
habt; wie viel Menſchen leben ohne den Stein der Weiſen!“

Das iſt wahr; aber wir ſollen uns ſo gluͤcklich machen als
wir koͤnnen.


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[38/0046] „Herr Mitvater, mir hat immer gedaͤucht, Ihr haͤttet beſ- ſer gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge- kehrt haͤttet.“ Warum, Mitvater? „Wenn Ihr Eure Uhrmacherei beſtaͤndig getrieben haͤttet, ſo haͤttet Ihr reichlich Euer Brod erwerben koͤnnen; nun aber hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was Ihr hattet, iſt noch dazu darauf gegangen.“ Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt haͤtte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen wuͤrden, eh’ ich den Stein der Weiſen wuͤrde gefunden haben, ſo haͤtte ich mich freilich bedacht, ehe ich’s angefangen haͤtte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntniſſe der Natur eingedrungen bin, nun wuͤrd’ es mir leid thun, wenn ich mich umſonſt ſollte lange geplagt haben. „Ihr habt Euch gewiß ſo lange umſonſt geplagt, denn Ihr habt Euch einmal bisher kuͤmmerlich beholfen. Ihr moͤgt nun ſo reich werden als Ihr wollt, Ihr koͤnnt doch das Elend ſo vieler Jahre nicht in Gluͤckſeligkeit verwandeln; und zudem glaub’ ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, ich glaube nicht, daß es einen Stein der Weiſen gibt!“ Ich kann Euch beweiſen, daß es einen Stein der Weiſen gibt. Ein gewiſſer Doktor Helvetius im Haag hat ein klein Buͤchlein geſchrieben, das guͤldene Kalb genannt: darin iſt es deutlich bewieſen, ſo daß Niemand, auch der groͤßte Ungläubige, wenn er’s lieſet, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denſelben aber bekommen werde, das iſt eine andere Frage. Warum nicht eben ſowohl als ein Anderer? da er ein freies Geſchenk Gottes iſt. „Wenn Euch Gott den Stein der Weiſen ſchenken wollte, Ihr haͤttet ihn ſchon lange! Warum ſollte er ihn Euch ſo lange vorenthalten? Zudem iſt’s ja nicht noͤthig, daß Ihr ihn habt; wie viel Menſchen leben ohne den Stein der Weiſen!“ Das iſt wahr; aber wir ſollen uns ſo gluͤcklich machen als wir koͤnnen.

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/46>, abgerufen am 21.11.2024.