hab' abermal eine Thorheit begangen, stammelte ihm der Kranke entgegen, ich stand auf -- ging aus Fenster -- eine kalte Nordluft blies an meinen Arm -- ich fing an zu frieren, die Materie ist mir auf die Brust getreten -- ich sterbe -- auch gut! -- thun Sie noch ihre Pflicht, Herr Doktor, da- mit hernach die Welt nicht über Sie lästern möge. Stil- ling machte das Verband los, und fand die Wunde völlig trocken, er streute spanisch Fliegenpulver über sie her, und um- gab den ganzen Stumpen mit Zugpflastern; dann verordnete er auch andere dienliche Mittel, allein alles half nicht. Stoi starb ihm unter den Händen.
Jetzt ein großes Punktum hinter meine medizinische Pra- xis, sagte Stilling zu sich selbst; er begleitete den guten Stoi zum Grabe, und begrub ihn mit seinem bisherigen Beruf. Doch beschloß er, die Staarkuren auf immer beizube- halten, blos darum, weil er darin so glücklich und die Kur selbst so wohlthätig war; dann aber machte er sichs auch zum Gesetz, sich dafür in Zukunft nichts mehr bezahlen zu lassen, sondern sich dadurch ein Kapital für jene Welt zu sammeln.
Nun rückte der Zeitpunkt heran, wo er Schönenthal ver- lassen und nach Rittersburg ziehen mußte: es war schon tief im Oktober, die Tage waren also kurz, die Witterung und die Wege schlimm, und endlich war er verbunden, mit dem Anfang des Novembers seine Kollegia anzufangen, indessen war noch vorher eine steile Klippe zu übersteigen; -- acht- hundert Gulden mußten bezahlt seyn, eher konnte er nicht ziehen. Verschiedene Freunde riethen ihm, er sollte bonis cidiren, und seinen Kreditoren Alles hingeben. Allein das war Stillings Sache nicht. Nein! Nein! sagte er, Je- der soll bis auf den letzten Heller bezahlt werden, das ver- spreche ich im Namen Gottes, er hat mich geführt, und wird mich gewiß nicht zu Schanden werden lassen, ich will nicht zum Schelmen werden, und ihm, meinem himmlischen Füh- rer, aus der Schule laufen. Ja, alles gut! antwortete man ihm, was wollen Sie aber nun machen? -- Bezahlen kön-
hab’ abermal eine Thorheit begangen, ſtammelte ihm der Kranke entgegen, ich ſtand auf — ging aus Fenſter — eine kalte Nordluft blies an meinen Arm — ich fing an zu frieren, die Materie iſt mir auf die Bruſt getreten — ich ſterbe — auch gut! — thun Sie noch ihre Pflicht, Herr Doktor, da- mit hernach die Welt nicht uͤber Sie laͤſtern moͤge. Stil- ling machte das Verband los, und fand die Wunde voͤllig trocken, er ſtreute ſpaniſch Fliegenpulver uͤber ſie her, und um- gab den ganzen Stumpen mit Zugpflaſtern; dann verordnete er auch andere dienliche Mittel, allein alles half nicht. Stoi ſtarb ihm unter den Haͤnden.
Jetzt ein großes Punktum hinter meine mediziniſche Pra- xis, ſagte Stilling zu ſich ſelbſt; er begleitete den guten Stoi zum Grabe, und begrub ihn mit ſeinem bisherigen Beruf. Doch beſchloß er, die Staarkuren auf immer beizube- halten, blos darum, weil er darin ſo gluͤcklich und die Kur ſelbſt ſo wohlthaͤtig war; dann aber machte er ſichs auch zum Geſetz, ſich dafuͤr in Zukunft nichts mehr bezahlen zu laſſen, ſondern ſich dadurch ein Kapital fuͤr jene Welt zu ſammeln.
Nun ruͤckte der Zeitpunkt heran, wo er Schoͤnenthal ver- laſſen und nach Rittersburg ziehen mußte: es war ſchon tief im Oktober, die Tage waren alſo kurz, die Witterung und die Wege ſchlimm, und endlich war er verbunden, mit dem Anfang des Novembers ſeine Kollegia anzufangen, indeſſen war noch vorher eine ſteile Klippe zu uͤberſteigen; — acht- hundert Gulden mußten bezahlt ſeyn, eher konnte er nicht ziehen. Verſchiedene Freunde riethen ihm, er ſollte bonis cidiren, und ſeinen Kreditoren Alles hingeben. Allein das war Stillings Sache nicht. Nein! Nein! ſagte er, Je- der ſoll bis auf den letzten Heller bezahlt werden, das ver- ſpreche ich im Namen Gottes, er hat mich gefuͤhrt, und wird mich gewiß nicht zu Schanden werden laſſen, ich will nicht zum Schelmen werden, und ihm, meinem himmliſchen Fuͤh- rer, aus der Schule laufen. Ja, alles gut! antwortete man ihm, was wollen Sie aber nun machen? — Bezahlen koͤn-
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hab’ abermal eine Thorheit begangen, ſtammelte ihm der Kranke
entgegen, ich ſtand auf — ging aus Fenſter — eine kalte
Nordluft blies an meinen Arm — ich fing an zu frieren,
die Materie iſt mir auf die Bruſt getreten — ich ſterbe —
auch gut! — thun Sie noch ihre Pflicht, Herr Doktor, da-
mit hernach die Welt nicht uͤber Sie laͤſtern moͤge. Stil-
ling machte das Verband los, und fand die Wunde voͤllig
trocken, er ſtreute ſpaniſch Fliegenpulver uͤber ſie her, und um-
gab den ganzen Stumpen mit Zugpflaſtern; dann verordnete
er auch andere dienliche Mittel, allein alles half nicht. Stoi
ſtarb ihm unter den Haͤnden.
Jetzt ein großes Punktum hinter meine mediziniſche Pra-
xis, ſagte Stilling zu ſich ſelbſt; er begleitete den guten
Stoi zum Grabe, und begrub ihn mit ſeinem bisherigen
Beruf. Doch beſchloß er, die Staarkuren auf immer beizube-
halten, blos darum, weil er darin ſo gluͤcklich und die
Kur ſelbſt ſo wohlthaͤtig war; dann aber machte er ſichs
auch zum Geſetz, ſich dafuͤr in Zukunft nichts mehr bezahlen
zu laſſen, ſondern ſich dadurch ein Kapital fuͤr jene Welt
zu ſammeln.
Nun ruͤckte der Zeitpunkt heran, wo er Schoͤnenthal ver-
laſſen und nach Rittersburg ziehen mußte: es war ſchon tief
im Oktober, die Tage waren alſo kurz, die Witterung und
die Wege ſchlimm, und endlich war er verbunden, mit dem
Anfang des Novembers ſeine Kollegia anzufangen, indeſſen
war noch vorher eine ſteile Klippe zu uͤberſteigen; — acht-
hundert Gulden mußten bezahlt ſeyn, eher konnte er nicht
ziehen. Verſchiedene Freunde riethen ihm, er ſollte bonis
cidiren, und ſeinen Kreditoren Alles hingeben. Allein das
war Stillings Sache nicht. Nein! Nein! ſagte er, Je-
der ſoll bis auf den letzten Heller bezahlt werden, das ver-
ſpreche ich im Namen Gottes, er hat mich gefuͤhrt, und wird
mich gewiß nicht zu Schanden werden laſſen, ich will nicht
zum Schelmen werden, und ihm, meinem himmliſchen Fuͤh-
rer, aus der Schule laufen. Ja, alles gut! antwortete man
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/370>, abgerufen am 24.11.2024.
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