sich ordentlich hätte durchbringen, geschweige Schulden bezah- len können.
Diese beiden Verbindungen brachte die Pietisten noch mehr gegen ihn auf: sie sahen, daß er sich immer mehr mit Welt- menschen einließ, und des Räsonnirens und Lästerns war da- her kein Ende. Es ist zu beklagen, daß diese sonst wahrhaft gute Menschenklasse die große Lehre Jesu, den sie doch sonst so hoch verehren: Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet, so wenig beobachten: alle ihre Vorzüge werden dadurch vernichtet und ihr Urtheil an jenem Tage wird, so wie das Urtheil der Pharisäer, sehr schwer seyn; ich nehme hier feierlich die Edlen und Rechtschaffenen, dieß Salz der Erde, unter ihnen aus, sie verdienen Ehrfurcht, Liebe und Schonung, und mein Ende sey wie ihr Ende.
Im Frühling des 1776sten Jahres mußte Stilling eine andere Wohnung beziehen, weil sein bisheriger Hausherr die seine selbst brauchen wollte; Herr Troost suchte ihm also eine und fand sie, sie lag am untern Ende der Stadt, am Wege nach Rüsselstein, an einer Menge von Gärten; sie war paradiesisch schön und bequem. Stilling miethete sie, und rüstete sich zum Aus- und Einzug. Nun stand ihm aber eine erschreckliche Probe im Wege; bisher hatte er die siebzig Reichs- thaler Hausmiethe jährlich richtig bezahlen können, aber jetzt war kein Heller dazu vorräthig, und doch durfte er nach dem Gesetz nicht eher ausziehen, bis er sie richtig abgetragen hatte. Der Mangel an Kredit und Geld machte ihn auch blöde, seinen Hausherrn um Gedult anzusprechen, indessen war doch kein ander Mittel; beladen mit dem äußersten Kummer, ging er also hin: sein Hausherr war ein braver, redlicher Kauf- mann, aber strenge und genau, er sprach ihn an, ihm noch eine kleine Zeit zu borgen; der Kaufmann bedachte sich ein wenig und sagte: "Ziehen Sie in Gottes Namen, aber mit dem Beding, daß Sie in vierzehn Tagen bezahlen." Stil- ling versprach im festen Vertrauen auf Gott, nach Verlauf dieser Zeit Alles zu berichtigen, und zog nun in seine neue Wohnung; die Heiterkeit dieses Hauses, die Aussicht in Got- tes freie Natur, die bequeme Einrichtung, kurz, alle Umstände
ſich ordentlich haͤtte durchbringen, geſchweige Schulden bezah- len koͤnnen.
Dieſe beiden Verbindungen brachte die Pietiſten noch mehr gegen ihn auf: ſie ſahen, daß er ſich immer mehr mit Welt- menſchen einließ, und des Raͤſonnirens und Laͤſterns war da- her kein Ende. Es iſt zu beklagen, daß dieſe ſonſt wahrhaft gute Menſchenklaſſe die große Lehre Jeſu, den ſie doch ſonſt ſo hoch verehren: Richtet nicht, ſo werdet ihr auch nicht gerichtet, ſo wenig beobachten: alle ihre Vorzuͤge werden dadurch vernichtet und ihr Urtheil an jenem Tage wird, ſo wie das Urtheil der Phariſaͤer, ſehr ſchwer ſeyn; ich nehme hier feierlich die Edlen und Rechtſchaffenen, dieß Salz der Erde, unter ihnen aus, ſie verdienen Ehrfurcht, Liebe und Schonung, und mein Ende ſey wie ihr Ende.
Im Fruͤhling des 1776ſten Jahres mußte Stilling eine andere Wohnung beziehen, weil ſein bisheriger Hausherr die ſeine ſelbſt brauchen wollte; Herr Trooſt ſuchte ihm alſo eine und fand ſie, ſie lag am untern Ende der Stadt, am Wege nach Ruͤſſelſtein, an einer Menge von Gaͤrten; ſie war paradieſiſch ſchoͤn und bequem. Stilling miethete ſie, und ruͤſtete ſich zum Aus- und Einzug. Nun ſtand ihm aber eine erſchreckliche Probe im Wege; bisher hatte er die ſiebzig Reichs- thaler Hausmiethe jaͤhrlich richtig bezahlen koͤnnen, aber jetzt war kein Heller dazu vorraͤthig, und doch durfte er nach dem Geſetz nicht eher ausziehen, bis er ſie richtig abgetragen hatte. Der Mangel an Kredit und Geld machte ihn auch bloͤde, ſeinen Hausherrn um Gedult anzuſprechen, indeſſen war doch kein ander Mittel; beladen mit dem aͤußerſten Kummer, ging er alſo hin: ſein Hausherr war ein braver, redlicher Kauf- mann, aber ſtrenge und genau, er ſprach ihn an, ihm noch eine kleine Zeit zu borgen; der Kaufmann bedachte ſich ein wenig und ſagte: „Ziehen Sie in Gottes Namen, aber mit dem Beding, daß Sie in vierzehn Tagen bezahlen.“ Stil- ling verſprach im feſten Vertrauen auf Gott, nach Verlauf dieſer Zeit Alles zu berichtigen, und zog nun in ſeine neue Wohnung; die Heiterkeit dieſes Hauſes, die Ausſicht in Got- tes freie Natur, die bequeme Einrichtung, kurz, alle Umſtaͤnde
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ſich ordentlich haͤtte durchbringen, geſchweige Schulden bezah-
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menſchen einließ, und des Raͤſonnirens und Laͤſterns war da-
her kein Ende. Es iſt zu beklagen, daß dieſe ſonſt wahrhaft
gute Menſchenklaſſe die große Lehre Jeſu, den ſie doch ſonſt
ſo hoch verehren: Richtet nicht, ſo werdet ihr auch
nicht gerichtet, ſo wenig beobachten: alle ihre Vorzuͤge
werden dadurch vernichtet und ihr Urtheil an jenem Tage
wird, ſo wie das Urtheil der Phariſaͤer, ſehr ſchwer ſeyn; ich
nehme hier feierlich die Edlen und Rechtſchaffenen, dieß Salz
der Erde, unter ihnen aus, ſie verdienen Ehrfurcht, Liebe und
Schonung, und mein Ende ſey wie ihr Ende.
Im Fruͤhling des 1776ſten Jahres mußte Stilling eine
andere Wohnung beziehen, weil ſein bisheriger Hausherr die
ſeine ſelbſt brauchen wollte; Herr Trooſt ſuchte ihm alſo
eine und fand ſie, ſie lag am untern Ende der Stadt, am
Wege nach Ruͤſſelſtein, an einer Menge von Gaͤrten; ſie war
paradieſiſch ſchoͤn und bequem. Stilling miethete ſie, und
ruͤſtete ſich zum Aus- und Einzug. Nun ſtand ihm aber eine
erſchreckliche Probe im Wege; bisher hatte er die ſiebzig Reichs-
thaler Hausmiethe jaͤhrlich richtig bezahlen koͤnnen, aber jetzt
war kein Heller dazu vorraͤthig, und doch durfte er nach dem
Geſetz nicht eher ausziehen, bis er ſie richtig abgetragen hatte.
Der Mangel an Kredit und Geld machte ihn auch bloͤde,
ſeinen Hausherrn um Gedult anzuſprechen, indeſſen war doch
kein ander Mittel; beladen mit dem aͤußerſten Kummer, ging
er alſo hin: ſein Hausherr war ein braver, redlicher Kauf-
mann, aber ſtrenge und genau, er ſprach ihn an, ihm noch
eine kleine Zeit zu borgen; der Kaufmann bedachte ſich ein
wenig und ſagte: „Ziehen Sie in Gottes Namen, aber mit
dem Beding, daß Sie in vierzehn Tagen bezahlen.“ Stil-
ling verſprach im feſten Vertrauen auf Gott, nach Verlauf
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/352>, abgerufen am 23.11.2024.
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