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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge-
lang es am ersten, sie kam wieder zu sich selbst, und wurde
zu Bette gebracht, Christine aber blieb noch ein paar Stun-
den in dem betrübten Zustande, dann wurde sie still; nun
machte man ihr das Bett und legte sie hinein, sie lag wie
ein Schlafender, ganz ohne Bewußtseyn und ohne sich ermun-
tern zu können; darüber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen
blieben nebst der Schwester bei Christinen, und Stilling
ritt mit dem schwersten Herzen von der Welt zu seiner Pa-
tientin. Als er des Abends wieder kam, so fand er seine Frau
noch in der nämlichen Betäubung, und erst des andern Mor-
gens kam sie wieder zu sich selbst.

Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine
andere. Nun verzog sich auch das Gewitter für diesmal,
Christine wurde wieder gesund, und es fand sich, daß alle
diese schrecklichen Zufälle Folge einer anfangenden Schwanger-
schaft gewesen waren. Den folgenden Herbst hatte sie wieder
mit einer eiternden Brust zu thun, welche abermals viele
schwere Umstände veranlaßte; außerdem war sie während der
Zeit recht gesund und munter.



Stillings häusliches Leben hatte also in jeder Rücksicht
einen schweren, kummervollen Anfang genommen. In seiner
ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zärtlichkeit,
womit ihn Christine behandelte; Beide liebten sich von Her-
zen und ihr Umgang mit einander war ein Muster für Ehe-
leute. Doch machte ihm auch die überschwengliche Liebe sei-
ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn sie artete öf-
ters in Eifersucht aus; indessen verlor sich diese Schwachheit
in den ersten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war
Stillings ganze Verfassung dem Zustand eines Wanderers
ähnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Räuber
und reißender Thiere reist, und sie von Zeit zu Zeit nah um
sich her rauschen und brüllen hört. Ihn quälten immerwäh-
rende Nahrungssorgen, er hatte wenig Glück in seinem Be-
ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,

beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge-
lang es am erſten, ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und wurde
zu Bette gebracht, Chriſtine aber blieb noch ein paar Stun-
den in dem betruͤbten Zuſtande, dann wurde ſie ſtill; nun
machte man ihr das Bett und legte ſie hinein, ſie lag wie
ein Schlafender, ganz ohne Bewußtſeyn und ohne ſich ermun-
tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen
blieben nebſt der Schweſter bei Chriſtinen, und Stilling
ritt mit dem ſchwerſten Herzen von der Welt zu ſeiner Pa-
tientin. Als er des Abends wieder kam, ſo fand er ſeine Frau
noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erſt des andern Mor-
gens kam ſie wieder zu ſich ſelbſt.

Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine
andere. Nun verzog ſich auch das Gewitter fuͤr diesmal,
Chriſtine wurde wieder geſund, und es fand ſich, daß alle
dieſe ſchrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger-
ſchaft geweſen waren. Den folgenden Herbſt hatte ſie wieder
mit einer eiternden Bruſt zu thun, welche abermals viele
ſchwere Umſtaͤnde veranlaßte; außerdem war ſie waͤhrend der
Zeit recht geſund und munter.



Stillings haͤusliches Leben hatte alſo in jeder Ruͤckſicht
einen ſchweren, kummervollen Anfang genommen. In ſeiner
ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit,
womit ihn Chriſtine behandelte; Beide liebten ſich von Her-
zen und ihr Umgang mit einander war ein Muſter fuͤr Ehe-
leute. Doch machte ihm auch die uͤberſchwengliche Liebe ſei-
ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn ſie artete oͤf-
ters in Eiferſucht aus; indeſſen verlor ſich dieſe Schwachheit
in den erſten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war
Stillings ganze Verfaſſung dem Zuſtand eines Wanderers
aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber
und reißender Thiere reist, und ſie von Zeit zu Zeit nah um
ſich her rauſchen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh-
rende Nahrungsſorgen, er hatte wenig Gluͤck in ſeinem Be-
ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,

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[306/0314] beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge- lang es am erſten, ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und wurde zu Bette gebracht, Chriſtine aber blieb noch ein paar Stun- den in dem betruͤbten Zuſtande, dann wurde ſie ſtill; nun machte man ihr das Bett und legte ſie hinein, ſie lag wie ein Schlafender, ganz ohne Bewußtſeyn und ohne ſich ermun- tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen blieben nebſt der Schweſter bei Chriſtinen, und Stilling ritt mit dem ſchwerſten Herzen von der Welt zu ſeiner Pa- tientin. Als er des Abends wieder kam, ſo fand er ſeine Frau noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erſt des andern Mor- gens kam ſie wieder zu ſich ſelbſt. Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine andere. Nun verzog ſich auch das Gewitter fuͤr diesmal, Chriſtine wurde wieder geſund, und es fand ſich, daß alle dieſe ſchrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger- ſchaft geweſen waren. Den folgenden Herbſt hatte ſie wieder mit einer eiternden Bruſt zu thun, welche abermals viele ſchwere Umſtaͤnde veranlaßte; außerdem war ſie waͤhrend der Zeit recht geſund und munter. Stillings haͤusliches Leben hatte alſo in jeder Ruͤckſicht einen ſchweren, kummervollen Anfang genommen. In ſeiner ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit, womit ihn Chriſtine behandelte; Beide liebten ſich von Her- zen und ihr Umgang mit einander war ein Muſter fuͤr Ehe- leute. Doch machte ihm auch die uͤberſchwengliche Liebe ſei- ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn ſie artete oͤf- ters in Eiferſucht aus; indeſſen verlor ſich dieſe Schwachheit in den erſten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war Stillings ganze Verfaſſung dem Zuſtand eines Wanderers aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber und reißender Thiere reist, und ſie von Zeit zu Zeit nah um ſich her rauſchen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh- rende Nahrungsſorgen, er hatte wenig Gluͤck in ſeinem Be- ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/314>, abgerufen am 10.06.2024.