Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner schwer
auf's Herz: wirst du auch diesen Tag dein Auskom-
men finden
? denn der Fall war sehr selten, daß er zwei
Tage Geldvorrath hatte, freilich stunden ihm seine Erfahrungen
und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er sah denn
doch täglich noch frömmere Leute, die mit dem bittersten Man-
gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu stil-
len; was konnte ihn also anders trösten, als ein unbedingtes
Hingeben an die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters, der
ihn nicht würde über Vermögen versucht werden lassen?

Dazu kam noch ein Umstand: er hatte den Grundsatz, daß
jeder Christ, und besonders der Arzt, ohne zu vernünfteln,
blos im Vertrauen auf Gott, wohlthätig seyn müsse: dadurch
beg[ - 2 Zeichen fehlen]g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus-
armen öfters die Arzneimittel in der Apotheke auf seine Rech-
nung machen ließ, und sich daher in Schulden steckte, die ihm
hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht
darauf an, bei solchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein-
genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht sagen, daß in
solchen Fällen innerer Trieb zur Wohlthätigkeit seine Handlun-
gen leitete, nein! es war auch ein gewisser Leichtsinn und
Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwäche
des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end-
lich durch viele schwere Proben genugsam kennen lernte. Daß
er aber auf diese Weise eine sehr ausgebreitete Praxis bekam,
ist kein Wunder, er hatte immer überflüssig zu thun, aber seine
Mühe trug wenig ein. Christine härmte sich auch darüber
ab, denn sie war sehr sparsam, und er sagte ihr nichts davon,
wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwürfe zu
hören, denn er glaubte gewiß, Gott würde ihn auf andere
Weise dafür segnen. Sonst waren Beide sehr mäßig in Nah-
rung und Kleidung, sie begnügten sich blos mit dem, was der
äußerste Wohlstand erforderte.

Christine wurde also immer schlimmer, und Stilling
glaubte nun gewiß, er würde sie verlieren müssen. An einem
Vormittag, als er am Bette saß und ihr aufwartete, fing ihr
der Odem auf Einmal an still zu stehen, sie reckte die Arme

chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner ſchwer
auf’s Herz: wirſt du auch dieſen Tag dein Auskom-
men finden
? denn der Fall war ſehr ſelten, daß er zwei
Tage Geldvorrath hatte, freilich ſtunden ihm ſeine Erfahrungen
und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er ſah denn
doch taͤglich noch froͤmmere Leute, die mit dem bitterſten Man-
gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu ſtil-
len; was konnte ihn alſo anders troͤſten, als ein unbedingtes
Hingeben an die Barmherzigkeit des himmliſchen Vaters, der
ihn nicht wuͤrde uͤber Vermoͤgen verſucht werden laſſen?

Dazu kam noch ein Umſtand: er hatte den Grundſatz, daß
jeder Chriſt, und beſonders der Arzt, ohne zu vernuͤnfteln,
blos im Vertrauen auf Gott, wohlthaͤtig ſeyn muͤſſe: dadurch
beg[ – 2 Zeichen fehlen]g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus-
armen oͤfters die Arzneimittel in der Apotheke auf ſeine Rech-
nung machen ließ, und ſich daher in Schulden ſteckte, die ihm
hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht
darauf an, bei ſolchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein-
genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht ſagen, daß in
ſolchen Faͤllen innerer Trieb zur Wohlthaͤtigkeit ſeine Handlun-
gen leitete, nein! es war auch ein gewiſſer Leichtſinn und
Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwaͤche
des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end-
lich durch viele ſchwere Proben genugſam kennen lernte. Daß
er aber auf dieſe Weiſe eine ſehr ausgebreitete Praxis bekam,
iſt kein Wunder, er hatte immer uͤberfluͤſſig zu thun, aber ſeine
Muͤhe trug wenig ein. Chriſtine haͤrmte ſich auch daruͤber
ab, denn ſie war ſehr ſparſam, und er ſagte ihr nichts davon,
wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwuͤrfe zu
hoͤren, denn er glaubte gewiß, Gott wuͤrde ihn auf andere
Weiſe dafuͤr ſegnen. Sonſt waren Beide ſehr maͤßig in Nah-
rung und Kleidung, ſie begnuͤgten ſich blos mit dem, was der
aͤußerſte Wohlſtand erforderte.

Chriſtine wurde alſo immer ſchlimmer, und Stilling
glaubte nun gewiß, er wuͤrde ſie verlieren muͤſſen. An einem
Vormittag, als er am Bette ſaß und ihr aufwartete, fing ihr
der Odem auf Einmal an ſtill zu ſtehen, ſie reckte die Arme

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0311" n="303"/>
chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner &#x017F;chwer<lb/>
auf&#x2019;s Herz: <hi rendition="#g">wir&#x017F;t du auch die&#x017F;en Tag dein Auskom-<lb/>
men finden</hi>? denn der Fall war &#x017F;ehr &#x017F;elten, daß er zwei<lb/>
Tage Geldvorrath hatte, freilich &#x017F;tunden ihm &#x017F;eine Erfahrungen<lb/>
und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er &#x017F;ah denn<lb/>
doch ta&#x0364;glich noch fro&#x0364;mmere Leute, die mit dem bitter&#x017F;ten Man-<lb/>
gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu &#x017F;til-<lb/>
len; was konnte ihn al&#x017F;o anders tro&#x0364;&#x017F;ten, als ein unbedingtes<lb/>
Hingeben an die Barmherzigkeit des himmli&#x017F;chen Vaters, der<lb/>
ihn nicht wu&#x0364;rde u&#x0364;ber Vermo&#x0364;gen ver&#x017F;ucht werden la&#x017F;&#x017F;en?</p><lb/>
            <p>Dazu kam noch ein Um&#x017F;tand: er hatte den Grund&#x017F;atz, daß<lb/>
jeder Chri&#x017F;t, und be&#x017F;onders der Arzt, ohne zu vernu&#x0364;nfteln,<lb/>
blos im Vertrauen auf Gott, wohltha&#x0364;tig &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e: dadurch<lb/>
beg<gap unit="chars" quantity="2"/>g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus-<lb/>
armen o&#x0364;fters die Arzneimittel in der Apotheke auf <hi rendition="#g">&#x017F;eine</hi> Rech-<lb/>
nung machen ließ, und &#x017F;ich daher in Schulden &#x017F;teckte, die ihm<lb/>
hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht<lb/>
darauf an, bei &#x017F;olchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein-<lb/>
genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht &#x017F;agen, daß in<lb/>
&#x017F;olchen Fa&#x0364;llen innerer Trieb zur Wohltha&#x0364;tigkeit &#x017F;eine Handlun-<lb/>
gen leitete, nein! es war auch ein gewi&#x017F;&#x017F;er Leicht&#x017F;inn und<lb/>
Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwa&#x0364;che<lb/>
des Charakters <hi rendition="#g">Stilling</hi> damals noch nicht kannte, aber end-<lb/>
lich durch viele &#x017F;chwere Proben genug&#x017F;am kennen lernte. Daß<lb/>
er aber auf <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> Wei&#x017F;e eine &#x017F;ehr ausgebreitete Praxis bekam,<lb/>
i&#x017F;t kein Wunder, er hatte immer u&#x0364;berflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig zu thun, aber &#x017F;eine<lb/>
Mu&#x0364;he trug wenig ein. <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> ha&#x0364;rmte &#x017F;ich auch daru&#x0364;ber<lb/>
ab, denn &#x017F;ie war &#x017F;ehr &#x017F;par&#x017F;am, und er &#x017F;agte ihr nichts davon,<lb/>
wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwu&#x0364;rfe zu<lb/>
ho&#x0364;ren, denn er glaubte gewiß, Gott wu&#x0364;rde ihn auf andere<lb/>
Wei&#x017F;e dafu&#x0364;r &#x017F;egnen. Son&#x017F;t waren Beide &#x017F;ehr ma&#x0364;ßig in Nah-<lb/>
rung und Kleidung, &#x017F;ie begnu&#x0364;gten &#x017F;ich blos mit dem, was der<lb/>
a&#x0364;ußer&#x017F;te Wohl&#x017F;tand erforderte.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> wurde al&#x017F;o immer &#x017F;chlimmer, und <hi rendition="#g">Stilling</hi><lb/>
glaubte nun gewiß, er wu&#x0364;rde &#x017F;ie verlieren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. An einem<lb/>
Vormittag, als er am Bette &#x017F;aß und ihr aufwartete, fing ihr<lb/>
der Odem auf Einmal an &#x017F;till zu &#x017F;tehen, &#x017F;ie reckte die Arme<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0311] chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner ſchwer auf’s Herz: wirſt du auch dieſen Tag dein Auskom- men finden? denn der Fall war ſehr ſelten, daß er zwei Tage Geldvorrath hatte, freilich ſtunden ihm ſeine Erfahrungen und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er ſah denn doch taͤglich noch froͤmmere Leute, die mit dem bitterſten Man- gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu ſtil- len; was konnte ihn alſo anders troͤſten, als ein unbedingtes Hingeben an die Barmherzigkeit des himmliſchen Vaters, der ihn nicht wuͤrde uͤber Vermoͤgen verſucht werden laſſen? Dazu kam noch ein Umſtand: er hatte den Grundſatz, daß jeder Chriſt, und beſonders der Arzt, ohne zu vernuͤnfteln, blos im Vertrauen auf Gott, wohlthaͤtig ſeyn muͤſſe: dadurch beg__g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus- armen oͤfters die Arzneimittel in der Apotheke auf ſeine Rech- nung machen ließ, und ſich daher in Schulden ſteckte, die ihm hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht darauf an, bei ſolchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein- genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht ſagen, daß in ſolchen Faͤllen innerer Trieb zur Wohlthaͤtigkeit ſeine Handlun- gen leitete, nein! es war auch ein gewiſſer Leichtſinn und Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwaͤche des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end- lich durch viele ſchwere Proben genugſam kennen lernte. Daß er aber auf dieſe Weiſe eine ſehr ausgebreitete Praxis bekam, iſt kein Wunder, er hatte immer uͤberfluͤſſig zu thun, aber ſeine Muͤhe trug wenig ein. Chriſtine haͤrmte ſich auch daruͤber ab, denn ſie war ſehr ſparſam, und er ſagte ihr nichts davon, wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwuͤrfe zu hoͤren, denn er glaubte gewiß, Gott wuͤrde ihn auf andere Weiſe dafuͤr ſegnen. Sonſt waren Beide ſehr maͤßig in Nah- rung und Kleidung, ſie begnuͤgten ſich blos mit dem, was der aͤußerſte Wohlſtand erforderte. Chriſtine wurde alſo immer ſchlimmer, und Stilling glaubte nun gewiß, er wuͤrde ſie verlieren muͤſſen. An einem Vormittag, als er am Bette ſaß und ihr aufwartete, fing ihr der Odem auf Einmal an ſtill zu ſtehen, ſie reckte die Arme

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/311
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/311>, abgerufen am 01.09.2024.