daß Niemand etwas ihm anhaben konnte; er bekam also das Patent eines privilegirten Arztes.
Gleich zu Anfang dieses Sommers machte Stilling be- kannt, daß er den jungen Wundärzten und Barbiergesellen ein Collegium über die Pysiologie lesen wolle; dieses kam zu Stande, die Herren Dinkler und Troost besuchten diese Stunde selbst fleißig, und von der Zeit an hat er ununterbrochen Collegia gelesen; wenn er öffentlich redete, dann war er in seinem Element, über dem Sprechen entwickelten sich seine Be- griffe so, daß er oft nicht Worte genug finden konnte, um Al- les auszudrücken: seine ganze Existenz heiterte sich auf und ward zu lauter Leben und Darstellung. Ich sage das nicht aus Ruhmsucht, das weiß Gott; Er hatte ihm das Talent gegeben, Stilling hatte Nichts dabei gethan, seine Freunde ahndeten oft, er würde dereinst noch öffentlicher Lehrer werden. Dann seufzte er bei sich selbst, und wünschte, aber sahe keinen Weg vor sich, wie er diese Stufe würde ersteigen können.
Kaum hatte Stilling etliche Wochen unter solchen Ge- schäften zugebracht, als auf einmal die schwere Hand des All- mächtigen wiederum die Ruthe zuckte und schrecklich auf ihn zuschlug. Christine fing an zu trauern und krank zu wer- den, nach und nach fanden sich ihre fürchterlichen Zufälle in all' ihrer Stärke wieder ein; sie bekam langwierige, heftige Zuckungen, die manchmal Stunden lang dauerten und den ar- men schwächlichen Körper dergestalt zusammenzogen, daß es erbärmlich anzusehen war; oft warfen sie die Convulsionen aus dem Bett heraus, wobei sie so schrie, daß mans etliche Häu- ser weit in der Nachbarschaft hören konnte; dieses währte et- liche Wochen fort, als ihre Umstände zusehends gefährlicher wurden. Stilling sahe sie für vollkommen hektisch an, denn sie hatte wirklich alle Symptomen der Lungensucht; jetzt fing er an zu zagen und mit Gott zu ringen, alle seine Kräfte erlagen, und diese neue Gattung von Kummer, ein Weib zu verlieren, das er so zärtlich liebte, schnitt ihm tiefe Wunden ins Herz; dazu kamen noch täglich neue Nahrungssorgen: er hatte an einem solchen Handelsort keinen Kredit, zudem war Alles sehr theuer und die Lebensart kostbar; mit jedem Erwa-
daß Niemand etwas ihm anhaben konnte; er bekam alſo das Patent eines privilegirten Arztes.
Gleich zu Anfang dieſes Sommers machte Stilling be- kannt, daß er den jungen Wundaͤrzten und Barbiergeſellen ein Collegium uͤber die Pyſiologie leſen wolle; dieſes kam zu Stande, die Herren Dinkler und Trooſt beſuchten dieſe Stunde ſelbſt fleißig, und von der Zeit an hat er ununterbrochen Collegia geleſen; wenn er oͤffentlich redete, dann war er in ſeinem Element, uͤber dem Sprechen entwickelten ſich ſeine Be- griffe ſo, daß er oft nicht Worte genug finden konnte, um Al- les auszudruͤcken: ſeine ganze Exiſtenz heiterte ſich auf und ward zu lauter Leben und Darſtellung. Ich ſage das nicht aus Ruhmſucht, das weiß Gott; Er hatte ihm das Talent gegeben, Stilling hatte Nichts dabei gethan, ſeine Freunde ahndeten oft, er wuͤrde dereinſt noch oͤffentlicher Lehrer werden. Dann ſeufzte er bei ſich ſelbſt, und wuͤnſchte, aber ſahe keinen Weg vor ſich, wie er dieſe Stufe wuͤrde erſteigen koͤnnen.
Kaum hatte Stilling etliche Wochen unter ſolchen Ge- ſchaͤften zugebracht, als auf einmal die ſchwere Hand des All- maͤchtigen wiederum die Ruthe zuckte und ſchrecklich auf ihn zuſchlug. Chriſtine fing an zu trauern und krank zu wer- den, nach und nach fanden ſich ihre fuͤrchterlichen Zufaͤlle in all’ ihrer Staͤrke wieder ein; ſie bekam langwierige, heftige Zuckungen, die manchmal Stunden lang dauerten und den ar- men ſchwaͤchlichen Koͤrper dergeſtalt zuſammenzogen, daß es erbaͤrmlich anzuſehen war; oft warfen ſie die Convulſionen aus dem Bett heraus, wobei ſie ſo ſchrie, daß mans etliche Haͤu- ſer weit in der Nachbarſchaft hoͤren konnte; dieſes waͤhrte et- liche Wochen fort, als ihre Umſtaͤnde zuſehends gefaͤhrlicher wurden. Stilling ſahe ſie fuͤr vollkommen hektiſch an, denn ſie hatte wirklich alle Symptomen der Lungenſucht; jetzt fing er an zu zagen und mit Gott zu ringen, alle ſeine Kraͤfte erlagen, und dieſe neue Gattung von Kummer, ein Weib zu verlieren, das er ſo zaͤrtlich liebte, ſchnitt ihm tiefe Wunden ins Herz; dazu kamen noch taͤglich neue Nahrungsſorgen: er hatte an einem ſolchen Handelsort keinen Kredit, zudem war Alles ſehr theuer und die Lebensart koſtbar; mit jedem Erwa-
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daß Niemand etwas ihm anhaben konnte; er bekam alſo das
Patent eines privilegirten Arztes.
Gleich zu Anfang dieſes Sommers machte Stilling be-
kannt, daß er den jungen Wundaͤrzten und Barbiergeſellen ein
Collegium uͤber die Pyſiologie leſen wolle; dieſes kam zu Stande,
die Herren Dinkler und Trooſt beſuchten dieſe Stunde
ſelbſt fleißig, und von der Zeit an hat er ununterbrochen
Collegia geleſen; wenn er oͤffentlich redete, dann war er in
ſeinem Element, uͤber dem Sprechen entwickelten ſich ſeine Be-
griffe ſo, daß er oft nicht Worte genug finden konnte, um Al-
les auszudruͤcken: ſeine ganze Exiſtenz heiterte ſich auf und
ward zu lauter Leben und Darſtellung. Ich ſage das nicht
aus Ruhmſucht, das weiß Gott; Er hatte ihm das Talent
gegeben, Stilling hatte Nichts dabei gethan, ſeine Freunde
ahndeten oft, er wuͤrde dereinſt noch oͤffentlicher Lehrer werden.
Dann ſeufzte er bei ſich ſelbſt, und wuͤnſchte, aber ſahe keinen
Weg vor ſich, wie er dieſe Stufe wuͤrde erſteigen koͤnnen.
Kaum hatte Stilling etliche Wochen unter ſolchen Ge-
ſchaͤften zugebracht, als auf einmal die ſchwere Hand des All-
maͤchtigen wiederum die Ruthe zuckte und ſchrecklich auf ihn
zuſchlug. Chriſtine fing an zu trauern und krank zu wer-
den, nach und nach fanden ſich ihre fuͤrchterlichen Zufaͤlle in
all’ ihrer Staͤrke wieder ein; ſie bekam langwierige, heftige
Zuckungen, die manchmal Stunden lang dauerten und den ar-
men ſchwaͤchlichen Koͤrper dergeſtalt zuſammenzogen, daß es
erbaͤrmlich anzuſehen war; oft warfen ſie die Convulſionen aus
dem Bett heraus, wobei ſie ſo ſchrie, daß mans etliche Haͤu-
ſer weit in der Nachbarſchaft hoͤren konnte; dieſes waͤhrte et-
liche Wochen fort, als ihre Umſtaͤnde zuſehends gefaͤhrlicher
wurden. Stilling ſahe ſie fuͤr vollkommen hektiſch an,
denn ſie hatte wirklich alle Symptomen der Lungenſucht; jetzt
fing er an zu zagen und mit Gott zu ringen, alle ſeine Kraͤfte
erlagen, und dieſe neue Gattung von Kummer, ein Weib zu
verlieren, das er ſo zaͤrtlich liebte, ſchnitt ihm tiefe Wunden
ins Herz; dazu kamen noch taͤglich neue Nahrungsſorgen: er
hatte an einem ſolchen Handelsort keinen Kredit, zudem war
Alles ſehr theuer und die Lebensart koſtbar; mit jedem Erwa-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/310>, abgerufen am 22.11.2024.
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