auf die Physiognomie verstehen, ich bin kein Kaufmann, ich studire Medicin! Der fremde Herr sah ihn ernst an, und ver- setzte: "Sie studiren also in der Mitte Ihres Lebens, da müs- sen vorher Berge zu übersteigen gewesen seyn, oder Sie haben spät gewählt! -- Stilling erwiederte: Beides hat bei mir Platz. Ich bin ein Sohn der Vorsehung, ohne ihre sonderbare Leitung wär ich entweder ein Schneider oder ein Kohlenbren- ner! Stilling sagte dieses mit Nachdruck und Herzensbewe- gung, wie er immer thut, wenn er auf diese Materie kommt. Der Unbekannte fuhr fort: "Sie erzählen uns wohl unterwegs Ihre Geschichte!" Ja, sagte Stilling, von Herzen gern! Nun klopfte ihn Jener auf die Schulter, und sagte: "Seyn Sie wer Sie wollen, Sie sind ein Mann nach meinem Herzen!"
Ihr, die ihr meinen Bruder Lavater so peitscht, woher kam's, daß dieser vornehme Fremde Stillingen im ersten Anblick lieb gewann? und welches ist die Sprache, welches sind die Buchstaben, die er so geschickt zu lesen und zu stu- diren wußte! --
Nun wurde auch der Student munter, er war auch ein wackerer Mann, er grüßte Stillingen, deßgleichen auch der Soldat. Stilling fragte: ob die Herren frühstückten? Ja, sagten Sie alle: Wir trinken Kaffee. Ich auch, setzte Stil- ling hinzu; er lief hinaus und bestellte. Als er wieder her- ein kam, fragte er: Kann ich wohl die Ehre haben, mit mei- nem Gefährten von Dero angenehmen Gesellschaft bis Cölln zu profitiren? Alle sagten einmüthig: Ja! es würde ihnen Ehre und Freude machen. Stilling bückte sich. Nun klei- deten sie sich Alle an, und das Frauenzimmer dahinten legte auch sehr schamhaft ein Stück nach dem andern an. Sie war Haushälterin bei einem geistlichen Herrn in Cölln, und folglich sehr behutsam in Gesellschaft fremder Mannsleute, wie- wohl sie das gar nicht nöthig hatte, denn sie war über alle Maßen häßlich.
Der Kaffee kam, Stilling setzte sich vor den Tisch, zog den Krahnen der Kaffeekanne vor sich und fing an zu zapfen; er war aufgeräumt, und in seiner Seele vergnügt, warum? weiß ich nicht. Der fremde Herr setzte sich neben ihn, und
auf die Phyſiognomie verſtehen, ich bin kein Kaufmann, ich ſtudire Medicin! Der fremde Herr ſah ihn ernſt an, und ver- ſetzte: „Sie ſtudiren alſo in der Mitte Ihres Lebens, da muͤſ- ſen vorher Berge zu uͤberſteigen geweſen ſeyn, oder Sie haben ſpaͤt gewaͤhlt! — Stilling erwiederte: Beides hat bei mir Platz. Ich bin ein Sohn der Vorſehung, ohne ihre ſonderbare Leitung waͤr ich entweder ein Schneider oder ein Kohlenbren- ner! Stilling ſagte dieſes mit Nachdruck und Herzensbewe- gung, wie er immer thut, wenn er auf dieſe Materie kommt. Der Unbekannte fuhr fort: „Sie erzaͤhlen uns wohl unterwegs Ihre Geſchichte!“ Ja, ſagte Stilling, von Herzen gern! Nun klopfte ihn Jener auf die Schulter, und ſagte: „Seyn Sie wer Sie wollen, Sie ſind ein Mann nach meinem Herzen!“
Ihr, die ihr meinen Bruder Lavater ſo peitſcht, woher kam’s, daß dieſer vornehme Fremde Stillingen im erſten Anblick lieb gewann? und welches iſt die Sprache, welches ſind die Buchſtaben, die er ſo geſchickt zu leſen und zu ſtu- diren wußte! —
Nun wurde auch der Student munter, er war auch ein wackerer Mann, er gruͤßte Stillingen, deßgleichen auch der Soldat. Stilling fragte: ob die Herren fruͤhſtuͤckten? Ja, ſagten Sie alle: Wir trinken Kaffee. Ich auch, ſetzte Stil- ling hinzu; er lief hinaus und beſtellte. Als er wieder her- ein kam, fragte er: Kann ich wohl die Ehre haben, mit mei- nem Gefaͤhrten von Dero angenehmen Geſellſchaft bis Coͤlln zu profitiren? Alle ſagten einmuͤthig: Ja! es wuͤrde ihnen Ehre und Freude machen. Stilling buͤckte ſich. Nun klei- deten ſie ſich Alle an, und das Frauenzimmer dahinten legte auch ſehr ſchamhaft ein Stuͤck nach dem andern an. Sie war Haushaͤlterin bei einem geiſtlichen Herrn in Coͤlln, und folglich ſehr behutſam in Geſellſchaft fremder Mannsleute, wie- wohl ſie das gar nicht noͤthig hatte, denn ſie war uͤber alle Maßen haͤßlich.
Der Kaffee kam, Stilling ſetzte ſich vor den Tiſch, zog den Krahnen der Kaffeekanne vor ſich und fing an zu zapfen; er war aufgeraͤumt, und in ſeiner Seele vergnuͤgt, warum? weiß ich nicht. Der fremde Herr ſetzte ſich neben ihn, und
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ſetzte: „Sie ſtudiren alſo in der Mitte Ihres Lebens, da muͤſ-
ſen vorher Berge zu uͤberſteigen geweſen ſeyn, oder Sie haben
ſpaͤt gewaͤhlt! — Stilling erwiederte: Beides hat bei mir
Platz. Ich bin ein Sohn der Vorſehung, ohne ihre ſonderbare
Leitung waͤr ich entweder ein Schneider oder ein Kohlenbren-
ner! Stilling ſagte dieſes mit Nachdruck und Herzensbewe-
gung, wie er immer thut, wenn er auf dieſe Materie kommt.
Der Unbekannte fuhr fort: „Sie erzaͤhlen uns wohl unterwegs
Ihre Geſchichte!“ Ja, ſagte Stilling, von Herzen gern!
Nun klopfte ihn Jener auf die Schulter, und ſagte: „Seyn
Sie wer Sie wollen, Sie ſind ein Mann nach meinem Herzen!“
Ihr, die ihr meinen Bruder Lavater ſo peitſcht, woher
kam’s, daß dieſer vornehme Fremde Stillingen im erſten
Anblick lieb gewann? und welches iſt die Sprache, welches
ſind die Buchſtaben, die er ſo geſchickt zu leſen und zu ſtu-
diren wußte! —
Nun wurde auch der Student munter, er war auch ein
wackerer Mann, er gruͤßte Stillingen, deßgleichen auch der
Soldat. Stilling fragte: ob die Herren fruͤhſtuͤckten? Ja,
ſagten Sie alle: Wir trinken Kaffee. Ich auch, ſetzte Stil-
ling hinzu; er lief hinaus und beſtellte. Als er wieder her-
ein kam, fragte er: Kann ich wohl die Ehre haben, mit mei-
nem Gefaͤhrten von Dero angenehmen Geſellſchaft bis Coͤlln
zu profitiren? Alle ſagten einmuͤthig: Ja! es wuͤrde ihnen
Ehre und Freude machen. Stilling buͤckte ſich. Nun klei-
deten ſie ſich Alle an, und das Frauenzimmer dahinten legte
auch ſehr ſchamhaft ein Stuͤck nach dem andern an. Sie
war Haushaͤlterin bei einem geiſtlichen Herrn in Coͤlln, und
folglich ſehr behutſam in Geſellſchaft fremder Mannsleute, wie-
wohl ſie das gar nicht noͤthig hatte, denn ſie war uͤber alle
Maßen haͤßlich.
Der Kaffee kam, Stilling ſetzte ſich vor den Tiſch, zog
den Krahnen der Kaffeekanne vor ſich und fing an zu zapfen;
er war aufgeraͤumt, und in ſeiner Seele vergnuͤgt, warum?
weiß ich nicht. Der fremde Herr ſetzte ſich neben ihn, und
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/292>, abgerufen am 22.11.2024.
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