Vierzehn Tage nach der schweren Glaubensprobe, die Stil- ling ausgestanden hatte, bekam er ganz unvermuthet einen Brief von Herrn Liebmann, nebst einem Wechsel von drei- hundert Reichsthaler. Er lachte laut, stellte sich gegen das Fenster, sah mit freudigem Blick gen Himmel, und sagte:
"Das war nur Dir möglich, Du allmächtiger Vater!"
"Mein ganzes Leben sey Gesang! Mein Wandel wandelnd Lied der Harfe!"
Nun bezahlte er Herrn Troost, Herrn R., und was er sonst schuldig war, und behielt noch genug übrig, den ganzen Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Straßburg war auffallend, so daß die ganze Universität von ihm zu sagen wußte. Die Philosophie war eigentlich von jeher diejenige Wissenschaft gewesen, wozu sein Geist die mehreste Neigung hatte. Um sich nun noch mehr darin zu üben, beschloß er, des Abends von fünf bis sechs Uhr, welche Stunde ihm übrig war, ein öffentliches Collegium in seinem Zimmer dar- über zu lesen. Denn weil er eine gute natürliche Gabe der Beredtsamkeit hatte, so entschloß er sich um desto lieber dazu, theils um die Philosophie zu wiederholen, und sich ferner darin zu üben, theils aber auch um eine Geschicklichkeit zu er- langen, öffentlich zu reden. Da er sich nun nichts dafür be- zahlen ließ, und dieses Collegium als eine Repetition angese- hen wurde, so gings ihm durch, ohne daß Jemand etwas dagegen zu sagen hatte. Er bekam Zuhörer die Menge, und durch Gelegenheit viele Bekannte und Freunde.
Seine eigenen Collegia versäumte er nie. Er präparirte sich auf der Anatomie selbsten mit Lust und Freude, und was er präparirt hatte, das demonstrirte er auch öffentlich, so daß Professoren und Studenten sich sehr über ihn verwunderten. Herr Professor Lobstein, der dieses Fach mit bekanntem größten Ruhm verwaltet, gewann ihn sehr lieb, und wendete allen Fleiß an, um ihm diese Wissenschaft gründlich beizu- bringen. Auch besuchte er schon diesen Winter mit Herrn Professor Ehrmann die Kranken im Hospital. Er bemerkte da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Ursachen. Mit
Vierzehn Tage nach der ſchweren Glaubensprobe, die Stil- ling ausgeſtanden hatte, bekam er ganz unvermuthet einen Brief von Herrn Liebmann, nebſt einem Wechſel von drei- hundert Reichsthaler. Er lachte laut, ſtellte ſich gegen das Fenſter, ſah mit freudigem Blick gen Himmel, und ſagte:
„Das war nur Dir moͤglich, Du allmaͤchtiger Vater!“
„Mein ganzes Leben ſey Geſang! Mein Wandel wandelnd Lied der Harfe!“
Nun bezahlte er Herrn Trooſt, Herrn R., und was er ſonſt ſchuldig war, und behielt noch genug uͤbrig, den ganzen Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Straßburg war auffallend, ſo daß die ganze Univerſitaͤt von ihm zu ſagen wußte. Die Philoſophie war eigentlich von jeher diejenige Wiſſenſchaft geweſen, wozu ſein Geiſt die mehreſte Neigung hatte. Um ſich nun noch mehr darin zu uͤben, beſchloß er, des Abends von fuͤnf bis ſechs Uhr, welche Stunde ihm uͤbrig war, ein oͤffentliches Collegium in ſeinem Zimmer dar- uͤber zu leſen. Denn weil er eine gute natuͤrliche Gabe der Beredtſamkeit hatte, ſo entſchloß er ſich um deſto lieber dazu, theils um die Philoſophie zu wiederholen, und ſich ferner darin zu uͤben, theils aber auch um eine Geſchicklichkeit zu er- langen, oͤffentlich zu reden. Da er ſich nun nichts dafuͤr be- zahlen ließ, und dieſes Collegium als eine Repetition angeſe- hen wurde, ſo gings ihm durch, ohne daß Jemand etwas dagegen zu ſagen hatte. Er bekam Zuhoͤrer die Menge, und durch Gelegenheit viele Bekannte und Freunde.
Seine eigenen Collegia verſaͤumte er nie. Er praͤparirte ſich auf der Anatomie ſelbſten mit Luſt und Freude, und was er praͤparirt hatte, das demonſtrirte er auch oͤffentlich, ſo daß Profeſſoren und Studenten ſich ſehr uͤber ihn verwunderten. Herr Profeſſor Lobſtein, der dieſes Fach mit bekanntem groͤßten Ruhm verwaltet, gewann ihn ſehr lieb, und wendete allen Fleiß an, um ihm dieſe Wiſſenſchaft gruͤndlich beizu- bringen. Auch beſuchte er ſchon dieſen Winter mit Herrn Profeſſor Ehrmann die Kranken im Hoſpital. Er bemerkte da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Urſachen. Mit
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Vierzehn Tage nach der ſchweren Glaubensprobe, die Stil-
ling ausgeſtanden hatte, bekam er ganz unvermuthet einen
Brief von Herrn Liebmann, nebſt einem Wechſel von drei-
hundert Reichsthaler. Er lachte laut, ſtellte ſich gegen das
Fenſter, ſah mit freudigem Blick gen Himmel, und ſagte:
„Das war nur Dir moͤglich, Du allmaͤchtiger Vater!“
„Mein ganzes Leben ſey Geſang!
Mein Wandel wandelnd Lied der Harfe!“
Nun bezahlte er Herrn Trooſt, Herrn R., und was er
ſonſt ſchuldig war, und behielt noch genug uͤbrig, den ganzen
Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Straßburg
war auffallend, ſo daß die ganze Univerſitaͤt von ihm zu ſagen
wußte. Die Philoſophie war eigentlich von jeher diejenige
Wiſſenſchaft geweſen, wozu ſein Geiſt die mehreſte Neigung
hatte. Um ſich nun noch mehr darin zu uͤben, beſchloß
er, des Abends von fuͤnf bis ſechs Uhr, welche Stunde ihm
uͤbrig war, ein oͤffentliches Collegium in ſeinem Zimmer dar-
uͤber zu leſen. Denn weil er eine gute natuͤrliche Gabe der
Beredtſamkeit hatte, ſo entſchloß er ſich um deſto lieber dazu,
theils um die Philoſophie zu wiederholen, und ſich ferner darin
zu uͤben, theils aber auch um eine Geſchicklichkeit zu er-
langen, oͤffentlich zu reden. Da er ſich nun nichts dafuͤr be-
zahlen ließ, und dieſes Collegium als eine Repetition angeſe-
hen wurde, ſo gings ihm durch, ohne daß Jemand etwas
dagegen zu ſagen hatte. Er bekam Zuhoͤrer die Menge, und
durch Gelegenheit viele Bekannte und Freunde.
Seine eigenen Collegia verſaͤumte er nie. Er praͤparirte
ſich auf der Anatomie ſelbſten mit Luſt und Freude, und was
er praͤparirt hatte, das demonſtrirte er auch oͤffentlich, ſo daß
Profeſſoren und Studenten ſich ſehr uͤber ihn verwunderten.
Herr Profeſſor Lobſtein, der dieſes Fach mit bekanntem
groͤßten Ruhm verwaltet, gewann ihn ſehr lieb, und wendete
allen Fleiß an, um ihm dieſe Wiſſenſchaft gruͤndlich beizu-
bringen. Auch beſuchte er ſchon dieſen Winter mit Herrn
Profeſſor Ehrmann die Kranken im Hoſpital. Er bemerkte
da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Urſachen. Mit
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/284>, abgerufen am 22.11.2024.
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