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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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um seine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß
sie so lange um ihn sorgten, bis sie wußten, daß er am Brod
war. Er erhielt auch bald freundschaftliche Antworten auf diese
Briefe, worin er zur Demuth und Rechtschaffenheit ermahnt
und vor aller Gefahr im Umgang mit unsichern Leuten ge-
warnt wurde.

Indessen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des
Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche ging, so ging
er nirgend anders, als auf die Orgel, und weil der Organist
ein steinalter und ungeschickter Mann war, so getraute sich
Stilling, während dem Singen und beim Ausgang aus der
Kirche besser zu spielen; denn ob er gleich das Clavierspielen
nie kunstmäßig, sondern blos aus eigener Uebung und Nach-
denken gelernt hatte, so spielte er doch den Choral ganz richtig
und nach den Noten und vollkommen vierstimmig; er ersuchte
deßwegen den Organisten, ihn spielen zu lassen; dieser war
von Herzen froh und ließ ihn immer spielen. Weil er nun
in den Vor- und Zwischenläufen beständig mit Sexten und
Terzen um sich warf und gern die sanftesten und rührendsten
Register zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes und
derer, die keine Musik verstehen, am mehrsten gerührt wird,
und weil er beim Ausgang aus der Kirche auch immer ein
harmonisches Singstück, das aber allezeit entweder traurig oder
zärtlich war, spielte, wobei fast immer die Flötenregister mit
dem Temulanten gebraucht wurden, so war Alles aufmerksam
auf den sonderbaren Organisten; der mehrste Haufe stand vor
der Kirche, bis er von der Orgel herunter und zur Kirchen-
thüre herauskam; dann steckten die Leute die Köpfe zusammen
und fragten sich untereinander: was das für ein Mensch seyn
möchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schnei-
der Nagels sein Geselle.

Wenn Jemand zu Meister Nagel kam, besonders Leute von
Condition, Kaufleute, Beamte, oder auch Gelehrte, die etwas
wegen Kleidersachen zu bestellen hatten, so ließen sie sich mit
Stillingen, wegen des Orgelspielens, in ein Gespräch ein; da
brachte dann ein Wort das andere. Er mischte zu der Zeit
viele lateinische Brocken mit in seine Reden, sonderlich wenn

Stillings sämmtl. Schriften. I. Baud. 14

um ſeine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß
ſie ſo lange um ihn ſorgten, bis ſie wußten, daß er am Brod
war. Er erhielt auch bald freundſchaftliche Antworten auf dieſe
Briefe, worin er zur Demuth und Rechtſchaffenheit ermahnt
und vor aller Gefahr im Umgang mit unſichern Leuten ge-
warnt wurde.

Indeſſen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des
Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche ging, ſo ging
er nirgend anders, als auf die Orgel, und weil der Organiſt
ein ſteinalter und ungeſchickter Mann war, ſo getraute ſich
Stilling, waͤhrend dem Singen und beim Ausgang aus der
Kirche beſſer zu ſpielen; denn ob er gleich das Clavierſpielen
nie kunſtmaͤßig, ſondern blos aus eigener Uebung und Nach-
denken gelernt hatte, ſo ſpielte er doch den Choral ganz richtig
und nach den Noten und vollkommen vierſtimmig; er erſuchte
deßwegen den Organiſten, ihn ſpielen zu laſſen; dieſer war
von Herzen froh und ließ ihn immer ſpielen. Weil er nun
in den Vor- und Zwiſchenlaͤufen beſtaͤndig mit Sexten und
Terzen um ſich warf und gern die ſanfteſten und ruͤhrendſten
Regiſter zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes und
derer, die keine Muſik verſtehen, am mehrſten geruͤhrt wird,
und weil er beim Ausgang aus der Kirche auch immer ein
harmoniſches Singſtuͤck, das aber allezeit entweder traurig oder
zaͤrtlich war, ſpielte, wobei faſt immer die Floͤtenregiſter mit
dem Temulanten gebraucht wurden, ſo war Alles aufmerkſam
auf den ſonderbaren Organiſten; der mehrſte Haufe ſtand vor
der Kirche, bis er von der Orgel herunter und zur Kirchen-
thuͤre herauskam; dann ſteckten die Leute die Koͤpfe zuſammen
und fragten ſich untereinander: was das fuͤr ein Menſch ſeyn
moͤchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schnei-
der Nagels ſein Geſelle.

Wenn Jemand zu Meiſter Nagel kam, beſonders Leute von
Condition, Kaufleute, Beamte, oder auch Gelehrte, die etwas
wegen Kleiderſachen zu beſtellen hatten, ſo ließen ſie ſich mit
Stillingen, wegen des Orgelſpielens, in ein Geſpraͤch ein; da
brachte dann ein Wort das andere. Er miſchte zu der Zeit
viele lateiniſche Brocken mit in ſeine Reden, ſonderlich wenn

Stillings ſämmtl. Schriften. I. Baud. 14
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[209/0217] um ſeine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß ſie ſo lange um ihn ſorgten, bis ſie wußten, daß er am Brod war. Er erhielt auch bald freundſchaftliche Antworten auf dieſe Briefe, worin er zur Demuth und Rechtſchaffenheit ermahnt und vor aller Gefahr im Umgang mit unſichern Leuten ge- warnt wurde. Indeſſen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche ging, ſo ging er nirgend anders, als auf die Orgel, und weil der Organiſt ein ſteinalter und ungeſchickter Mann war, ſo getraute ſich Stilling, waͤhrend dem Singen und beim Ausgang aus der Kirche beſſer zu ſpielen; denn ob er gleich das Clavierſpielen nie kunſtmaͤßig, ſondern blos aus eigener Uebung und Nach- denken gelernt hatte, ſo ſpielte er doch den Choral ganz richtig und nach den Noten und vollkommen vierſtimmig; er erſuchte deßwegen den Organiſten, ihn ſpielen zu laſſen; dieſer war von Herzen froh und ließ ihn immer ſpielen. Weil er nun in den Vor- und Zwiſchenlaͤufen beſtaͤndig mit Sexten und Terzen um ſich warf und gern die ſanfteſten und ruͤhrendſten Regiſter zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes und derer, die keine Muſik verſtehen, am mehrſten geruͤhrt wird, und weil er beim Ausgang aus der Kirche auch immer ein harmoniſches Singſtuͤck, das aber allezeit entweder traurig oder zaͤrtlich war, ſpielte, wobei faſt immer die Floͤtenregiſter mit dem Temulanten gebraucht wurden, ſo war Alles aufmerkſam auf den ſonderbaren Organiſten; der mehrſte Haufe ſtand vor der Kirche, bis er von der Orgel herunter und zur Kirchen- thuͤre herauskam; dann ſteckten die Leute die Koͤpfe zuſammen und fragten ſich untereinander: was das fuͤr ein Menſch ſeyn moͤchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schnei- der Nagels ſein Geſelle. Wenn Jemand zu Meiſter Nagel kam, beſonders Leute von Condition, Kaufleute, Beamte, oder auch Gelehrte, die etwas wegen Kleiderſachen zu beſtellen hatten, ſo ließen ſie ſich mit Stillingen, wegen des Orgelſpielens, in ein Geſpraͤch ein; da brachte dann ein Wort das andere. Er miſchte zu der Zeit viele lateiniſche Brocken mit in ſeine Reden, ſonderlich wenn Stillings ſämmtl. Schriften. I. Baud. 14

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/217>, abgerufen am 27.11.2024.