guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geschlafen hätte, und er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge- stern Abend wohl recht müde? sagte Trine, ihr sahet so trau- rig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht so sehr müde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgestan- den und sehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten wäre. Ja, sagte Arnold, ihr seyd bei Leuten, die Gott fürch- ten und gern selig werden wollen; wenn ihr große Schätze bei euch hättet, sie wären bei uns verwahrt. Stilling reichte ihm seine rechte Hand und sagte mit der zärtlichsten Miene: Gott segne euch! so sind wir einerlei Meinung. Trine! fuhr Arnold fort, mach' uns einen guten Thee, hol' etwas vom besten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei so zusammentrin- ken, wir möchten nicht wieder zusammenkommen. Die Frau war hurtig und froh, sie that gern, was der Mann sagte. Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. Stil- ling floß über von Freundschaft und Empfindung, es that ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih- nen Allen über, als er Abschied nahm. Aufs Neue gestärkt, wanderte er wieder seinen Weg fort.
Nach fünf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in einen schönen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag; er fragte nach einem guten Wirthshause; man wies ihm eins an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte etwas zu essen. Hier saß ein alter Mann am Ofen; der Schnitt seiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche Beschaffenheit derselben aber, daß er weit von seinem ehmali- gen Zustand herunter gekommen seyn mußte; sonst waren zwei Jünglinge und ein Mädchen daselbst, deren tiefe Trauerkleider den Verlust eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das Mädchen besorgte die Küche, sie sah modest und reinlich aus.
Stilling setzte sich gegen den alten Mann über; sein of- fenes Gesicht und seine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß er sich mit ihm in ein Gespräch einließ. Beide wurden bald vertraulich, so daß Stilling seine ganze Geschichte erzählte. Conrad Brauer (so hieß der Alte) verwunderte sich über
guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geſchlafen haͤtte, und er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge- ſtern Abend wohl recht muͤde? ſagte Trine, ihr ſahet ſo trau- rig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht ſo ſehr muͤde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgeſtan- den und ſehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten waͤre. Ja, ſagte Arnold, ihr ſeyd bei Leuten, die Gott fuͤrch- ten und gern ſelig werden wollen; wenn ihr große Schaͤtze bei euch haͤttet, ſie waͤren bei uns verwahrt. Stilling reichte ihm ſeine rechte Hand und ſagte mit der zaͤrtlichſten Miene: Gott ſegne euch! ſo ſind wir einerlei Meinung. Trine! fuhr Arnold fort, mach’ uns einen guten Thee, hol’ etwas vom beſten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei ſo zuſammentrin- ken, wir moͤchten nicht wieder zuſammenkommen. Die Frau war hurtig und froh, ſie that gern, was der Mann ſagte. Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. Stil- ling floß uͤber von Freundſchaft und Empfindung, es that ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih- nen Allen uͤber, als er Abſchied nahm. Aufs Neue geſtaͤrkt, wanderte er wieder ſeinen Weg fort.
Nach fuͤnf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in einen ſchoͤnen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag; er fragte nach einem guten Wirthshauſe; man wies ihm eins an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte etwas zu eſſen. Hier ſaß ein alter Mann am Ofen; der Schnitt ſeiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche Beſchaffenheit derſelben aber, daß er weit von ſeinem ehmali- gen Zuſtand herunter gekommen ſeyn mußte; ſonſt waren zwei Juͤnglinge und ein Maͤdchen daſelbſt, deren tiefe Trauerkleider den Verluſt eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das Maͤdchen beſorgte die Kuͤche, ſie ſah modeſt und reinlich aus.
Stilling ſetzte ſich gegen den alten Mann uͤber; ſein of- fenes Geſicht und ſeine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß er ſich mit ihm in ein Geſpraͤch einließ. Beide wurden bald vertraulich, ſo daß Stilling ſeine ganze Geſchichte erzaͤhlte. Conrad Brauer (ſo hieß der Alte) verwunderte ſich uͤber
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0211"n="203"/>
guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geſchlafen haͤtte, und<lb/>
er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge-<lb/>ſtern Abend wohl recht muͤde? ſagte <hirendition="#g">Trine</hi>, ihr ſahet ſo trau-<lb/>
rig aus. <hirendition="#g">Stilling</hi> erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht<lb/>ſo ſehr muͤde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgeſtan-<lb/>
den und ſehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß<lb/>
ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten<lb/>
waͤre. Ja, ſagte <hirendition="#g">Arnold</hi>, ihr ſeyd bei Leuten, die Gott fuͤrch-<lb/>
ten und gern ſelig werden wollen; wenn ihr große Schaͤtze bei<lb/>
euch haͤttet, ſie waͤren bei uns verwahrt. <hirendition="#g">Stilling</hi> reichte<lb/>
ihm ſeine rechte Hand und ſagte mit der zaͤrtlichſten Miene:<lb/>
Gott ſegne euch! ſo ſind wir einerlei Meinung. <hirendition="#g">Trine</hi>! fuhr<lb/><hirendition="#g">Arnold</hi> fort, mach’ uns einen guten Thee, hol’ etwas vom<lb/>
beſten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei ſo zuſammentrin-<lb/>
ken, wir moͤchten nicht wieder zuſammenkommen. Die Frau<lb/>
war hurtig und froh, ſie that gern, was der Mann ſagte.<lb/>
Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. <hirendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> floß uͤber von Freundſchaft und Empfindung, es that<lb/>
ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih-<lb/>
nen Allen uͤber, als er Abſchied nahm. Aufs Neue geſtaͤrkt,<lb/>
wanderte er wieder ſeinen Weg fort.</p><lb/><p>Nach fuͤnf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in<lb/>
einen ſchoͤnen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag;<lb/>
er fragte nach einem guten Wirthshauſe; man wies ihm eins<lb/>
an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte<lb/>
etwas zu eſſen. Hier ſaß ein alter Mann am Ofen; der<lb/>
Schnitt ſeiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche<lb/>
Beſchaffenheit derſelben aber, daß er weit von ſeinem ehmali-<lb/>
gen Zuſtand herunter gekommen ſeyn mußte; ſonſt waren zwei<lb/>
Juͤnglinge und ein Maͤdchen daſelbſt, deren tiefe Trauerkleider<lb/>
den Verluſt eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das<lb/>
Maͤdchen beſorgte die Kuͤche, ſie ſah modeſt und reinlich aus.</p><lb/><p><hirendition="#g">Stilling</hi>ſetzte ſich gegen den alten Mann uͤber; ſein of-<lb/>
fenes Geſicht und ſeine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß<lb/>
er ſich mit ihm in ein Geſpraͤch einließ. Beide wurden bald<lb/>
vertraulich, ſo daß <hirendition="#g">Stilling</hi>ſeine ganze Geſchichte erzaͤhlte.<lb/><hirendition="#g">Conrad Brauer</hi> (ſo hieß der Alte) verwunderte ſich uͤber<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[203/0211]
guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geſchlafen haͤtte, und
er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge-
ſtern Abend wohl recht muͤde? ſagte Trine, ihr ſahet ſo trau-
rig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht
ſo ſehr muͤde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgeſtan-
den und ſehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß
ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten
waͤre. Ja, ſagte Arnold, ihr ſeyd bei Leuten, die Gott fuͤrch-
ten und gern ſelig werden wollen; wenn ihr große Schaͤtze bei
euch haͤttet, ſie waͤren bei uns verwahrt. Stilling reichte
ihm ſeine rechte Hand und ſagte mit der zaͤrtlichſten Miene:
Gott ſegne euch! ſo ſind wir einerlei Meinung. Trine! fuhr
Arnold fort, mach’ uns einen guten Thee, hol’ etwas vom
beſten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei ſo zuſammentrin-
ken, wir moͤchten nicht wieder zuſammenkommen. Die Frau
war hurtig und froh, ſie that gern, was der Mann ſagte.
Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. Stil-
ling floß uͤber von Freundſchaft und Empfindung, es that
ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih-
nen Allen uͤber, als er Abſchied nahm. Aufs Neue geſtaͤrkt,
wanderte er wieder ſeinen Weg fort.
Nach fuͤnf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in
einen ſchoͤnen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag;
er fragte nach einem guten Wirthshauſe; man wies ihm eins
an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte
etwas zu eſſen. Hier ſaß ein alter Mann am Ofen; der
Schnitt ſeiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche
Beſchaffenheit derſelben aber, daß er weit von ſeinem ehmali-
gen Zuſtand herunter gekommen ſeyn mußte; ſonſt waren zwei
Juͤnglinge und ein Maͤdchen daſelbſt, deren tiefe Trauerkleider
den Verluſt eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das
Maͤdchen beſorgte die Kuͤche, ſie ſah modeſt und reinlich aus.
Stilling ſetzte ſich gegen den alten Mann uͤber; ſein of-
fenes Geſicht und ſeine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß
er ſich mit ihm in ein Geſpraͤch einließ. Beide wurden bald
vertraulich, ſo daß Stilling ſeine ganze Geſchichte erzaͤhlte.
Conrad Brauer (ſo hieß der Alte) verwunderte ſich uͤber
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/211>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.