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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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mit Stilling sang, als sie so außerordentlich traurig wurde.)
"Nachdem sie ein paar Verse gesungen hatte, kam ein wohlbe-
kannter Jüngling zu ihr, der grüßte sie und fragte: Ob sie wohl
ein klein wenig mit ihm die Wiesen herunter spazieren wollte?
Sie thats nicht gern, doch als er sie sehr nöthigte, so ging sie
mit. Als sie nun eine Strecke zusammen gewandelt hatten,
so wurde dem Mädchen auf einmal alles fremd. Sie befand
sich in einer ganz unbekannten Gegend, der Jüngling aber stand
lang und weiß neben ihr, wie ein Todter, der auf der Bahre
liegt, und sah sie erschrecklich an. Dem Mädchen wurde tod-
bange, und sie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott
gnädig seyn möchte. Nun drehte sich der Jüngling auf einmal
mit dem Arm herum und sprach mit holder Stimme: Da
sieh, wie es dir ergehen wird
! sie sah vor sich hin eine
Weibsperson stehen, welche ihr selbsten sehr ähnlich oder wohl
gar ähnlich war; sie hatte alte Lumpen anstatt der Kleider um
sich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben
so ärmlich aussahe. Sieh! sagte der Geist ferner, das ist
schon das dritte unehliche Kind, das du haben wirst
.
Das Mädchen erschrack und sank in Ohnmacht. Als sie wieder
zu sich selber kam, da lag sie in ihrem Bett und schwitzte vor
Angst, sie glaubte aber, sie hätte geträumt. Siehe, Heinrich!
das liegt mir immer so im Sinn, und deßwegen bin ich traurig."
Stilling setzte hart an sie mit Fragen, ob ihr das nicht selb-
sten passirt wäre? Allein sie läugnete es beständig und bezeugte,
daß es eine Geschichte wäre, die sie hätte erzählen hören.

Die traurige Lebensgeschichte dieser bedauernswürdigen Person
hat es endlich ausgewiesen, daß sie diese schreckliche Ahnung sel-
ber muß gehabt haben; und nun läßt es sich leicht begreifen,
warum sie damals so melancholisch geworden. Ich übergehe
ihre Historie aus wichtigen Gründen, und sage nur so viel:
Sie beging ein Jahr hernach eine kleine, ganz wohl zu entschul-
digende Thorheit; diese war der erste Schritt zu ihrem Fall,
und dieser die Ursache ihrer folgenden schweren und betrübten
Schicksale. Sie war eine edle Seele, begabt mit vortrefflichen
Leibes- und Geistes-Gaben; nur ein Hang zur Zärtlichkeit, mit
etwas Leichtsinn verbunden, war die entfernte Ursache ihres Un-

mit Stilling ſang, als ſie ſo außerordentlich traurig wurde.)
„Nachdem ſie ein paar Verſe geſungen hatte, kam ein wohlbe-
kannter Juͤngling zu ihr, der gruͤßte ſie und fragte: Ob ſie wohl
ein klein wenig mit ihm die Wieſen herunter ſpazieren wollte?
Sie thats nicht gern, doch als er ſie ſehr noͤthigte, ſo ging ſie
mit. Als ſie nun eine Strecke zuſammen gewandelt hatten,
ſo wurde dem Maͤdchen auf einmal alles fremd. Sie befand
ſich in einer ganz unbekannten Gegend, der Juͤngling aber ſtand
lang und weiß neben ihr, wie ein Todter, der auf der Bahre
liegt, und ſah ſie erſchrecklich an. Dem Maͤdchen wurde tod-
bange, und ſie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott
gnaͤdig ſeyn moͤchte. Nun drehte ſich der Juͤngling auf einmal
mit dem Arm herum und ſprach mit holder Stimme: Da
ſieh, wie es dir ergehen wird
! ſie ſah vor ſich hin eine
Weibsperſon ſtehen, welche ihr ſelbſten ſehr aͤhnlich oder wohl
gar aͤhnlich war; ſie hatte alte Lumpen anſtatt der Kleider um
ſich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben
ſo aͤrmlich ausſahe. Sieh! ſagte der Geiſt ferner, das iſt
ſchon das dritte unehliche Kind, das du haben wirſt
.
Das Maͤdchen erſchrack und ſank in Ohnmacht. Als ſie wieder
zu ſich ſelber kam, da lag ſie in ihrem Bett und ſchwitzte vor
Angſt, ſie glaubte aber, ſie haͤtte getraͤumt. Siehe, Heinrich!
das liegt mir immer ſo im Sinn, und deßwegen bin ich traurig.“
Stilling ſetzte hart an ſie mit Fragen, ob ihr das nicht ſelb-
ſten paſſirt waͤre? Allein ſie laͤugnete es beſtaͤndig und bezeugte,
daß es eine Geſchichte waͤre, die ſie haͤtte erzaͤhlen hoͤren.

Die traurige Lebensgeſchichte dieſer bedauernswuͤrdigen Perſon
hat es endlich ausgewieſen, daß ſie dieſe ſchreckliche Ahnung ſel-
ber muß gehabt haben; und nun laͤßt es ſich leicht begreifen,
warum ſie damals ſo melancholiſch geworden. Ich uͤbergehe
ihre Hiſtorie aus wichtigen Gruͤnden, und ſage nur ſo viel:
Sie beging ein Jahr hernach eine kleine, ganz wohl zu entſchul-
digende Thorheit; dieſe war der erſte Schritt zu ihrem Fall,
und dieſer die Urſache ihrer folgenden ſchweren und betruͤbten
Schickſale. Sie war eine edle Seele, begabt mit vortrefflichen
Leibes- und Geiſtes-Gaben; nur ein Hang zur Zaͤrtlichkeit, mit
etwas Leichtſinn verbunden, war die entfernte Urſache ihres Un-

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[183/0191] mit Stilling ſang, als ſie ſo außerordentlich traurig wurde.) „Nachdem ſie ein paar Verſe geſungen hatte, kam ein wohlbe- kannter Juͤngling zu ihr, der gruͤßte ſie und fragte: Ob ſie wohl ein klein wenig mit ihm die Wieſen herunter ſpazieren wollte? Sie thats nicht gern, doch als er ſie ſehr noͤthigte, ſo ging ſie mit. Als ſie nun eine Strecke zuſammen gewandelt hatten, ſo wurde dem Maͤdchen auf einmal alles fremd. Sie befand ſich in einer ganz unbekannten Gegend, der Juͤngling aber ſtand lang und weiß neben ihr, wie ein Todter, der auf der Bahre liegt, und ſah ſie erſchrecklich an. Dem Maͤdchen wurde tod- bange, und ſie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott gnaͤdig ſeyn moͤchte. Nun drehte ſich der Juͤngling auf einmal mit dem Arm herum und ſprach mit holder Stimme: Da ſieh, wie es dir ergehen wird! ſie ſah vor ſich hin eine Weibsperſon ſtehen, welche ihr ſelbſten ſehr aͤhnlich oder wohl gar aͤhnlich war; ſie hatte alte Lumpen anſtatt der Kleider um ſich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben ſo aͤrmlich ausſahe. Sieh! ſagte der Geiſt ferner, das iſt ſchon das dritte unehliche Kind, das du haben wirſt. Das Maͤdchen erſchrack und ſank in Ohnmacht. Als ſie wieder zu ſich ſelber kam, da lag ſie in ihrem Bett und ſchwitzte vor Angſt, ſie glaubte aber, ſie haͤtte getraͤumt. Siehe, Heinrich! das liegt mir immer ſo im Sinn, und deßwegen bin ich traurig.“ Stilling ſetzte hart an ſie mit Fragen, ob ihr das nicht ſelb- ſten paſſirt waͤre? Allein ſie laͤugnete es beſtaͤndig und bezeugte, daß es eine Geſchichte waͤre, die ſie haͤtte erzaͤhlen hoͤren. Die traurige Lebensgeſchichte dieſer bedauernswuͤrdigen Perſon hat es endlich ausgewieſen, daß ſie dieſe ſchreckliche Ahnung ſel- ber muß gehabt haben; und nun laͤßt es ſich leicht begreifen, warum ſie damals ſo melancholiſch geworden. Ich uͤbergehe ihre Hiſtorie aus wichtigen Gruͤnden, und ſage nur ſo viel: Sie beging ein Jahr hernach eine kleine, ganz wohl zu entſchul- digende Thorheit; dieſe war der erſte Schritt zu ihrem Fall, und dieſer die Urſache ihrer folgenden ſchweren und betruͤbten Schickſale. Sie war eine edle Seele, begabt mit vortrefflichen Leibes- und Geiſtes-Gaben; nur ein Hang zur Zaͤrtlichkeit, mit etwas Leichtſinn verbunden, war die entfernte Urſache ihres Un-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/191>, abgerufen am 24.11.2024.