ter die größten Schönheiten des ganzen Landes zählen mußte. Diese sang unvergleichlich und konnte einen Vorrath von vielen schönen Liedern.
Stilling spürte, daß er mit diesem Mädchen sympathisirte, und sie auch mit ihm, doch ohne Neigung, sich zu heirathen. Sie konnten Stunden lang zusammensitzen und singen, oder sich etwas erzählen, ohne daß etwas Vertrauliches mit unterlief, als blos zärtliche Freundschaft. Was aber endlich daraus hätte werden können, wenn dieser Umgang lange gedauert hätte, das will ich nicht untersuchen. Indessen genoß doch Stilling die Zeit manche vergnügte Stunde; und dieses Vergnügen würde voll- kommner gewesen seyn, wenn er nicht nöthig gehabt hätte, wie- der zurück nach Leindorf zu gehen.
An einem Sonntag Abend saß Stilling mit Lieschen (so hieß das Mädchen) am Tisch und sangen zusammen. Ob nun das Lied einigen Eindruck auf sie machte, oder ob ihr sonst etwas Trauriges einfiel, weiß ich nicht, sie fing herzlich an zu weinen. Stilling fragte sie, was ihr fehlte? Sie sagte aber nichts, sondern stand auf und ging fort, kam auch diesen Abend nicht wieder. Sie blieb von der Zeit an melancholisch, ohne daß Stilling damals gewahr wurde, warum. Diese Verän- derung machte ihm Unruhe, und zu einer andern Zeit, da sie beide wiederum allein waren, setzte er so hart an sie, daß sie endlich folgender Gestalt anfing:
"Heinrich, ich kann und darf dir nicht sagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzählen: Es war einmal ein Mäd- chen, das war gut und fromm, und hatte keine Lust zu unzüch- tigem Leben; aber sie hatte ein zärtliches Herz, auch war sie schön und tugendsam."
"Diese ging an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenster zu stehen, der Vollmond schien so schön in den Hof, es war Sommer und alles draußen so still. Sie bekam Lust, noch ein wenig herausgehen. Sie ging still zur Hinterthür hinaus in den Hof und aus dem Hof auf die Wiese, die daran stieß. Hier setzte sie sich unter eine Hecke in den Schatten und sang mit leiser Stimme: "Weicht quälende Gedanken!" (Die- ses war eben das Lied, welches Lieschen den Sonntag Abend
ter die groͤßten Schoͤnheiten des ganzen Landes zaͤhlen mußte. Dieſe ſang unvergleichlich und konnte einen Vorrath von vielen ſchoͤnen Liedern.
Stilling ſpuͤrte, daß er mit dieſem Maͤdchen ſympathiſirte, und ſie auch mit ihm, doch ohne Neigung, ſich zu heirathen. Sie konnten Stunden lang zuſammenſitzen und ſingen, oder ſich etwas erzaͤhlen, ohne daß etwas Vertrauliches mit unterlief, als blos zaͤrtliche Freundſchaft. Was aber endlich daraus haͤtte werden koͤnnen, wenn dieſer Umgang lange gedauert haͤtte, das will ich nicht unterſuchen. Indeſſen genoß doch Stilling die Zeit manche vergnuͤgte Stunde; und dieſes Vergnuͤgen wuͤrde voll- kommner geweſen ſeyn, wenn er nicht noͤthig gehabt haͤtte, wie- der zuruͤck nach Leindorf zu gehen.
An einem Sonntag Abend ſaß Stilling mit Lieschen (ſo hieß das Maͤdchen) am Tiſch und ſangen zuſammen. Ob nun das Lied einigen Eindruck auf ſie machte, oder ob ihr ſonſt etwas Trauriges einfiel, weiß ich nicht, ſie fing herzlich an zu weinen. Stilling fragte ſie, was ihr fehlte? Sie ſagte aber nichts, ſondern ſtand auf und ging fort, kam auch dieſen Abend nicht wieder. Sie blieb von der Zeit an melancholiſch, ohne daß Stilling damals gewahr wurde, warum. Dieſe Veraͤn- derung machte ihm Unruhe, und zu einer andern Zeit, da ſie beide wiederum allein waren, ſetzte er ſo hart an ſie, daß ſie endlich folgender Geſtalt anfing:
„Heinrich, ich kann und darf dir nicht ſagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzaͤhlen: Es war einmal ein Maͤd- chen, das war gut und fromm, und hatte keine Luſt zu unzuͤch- tigem Leben; aber ſie hatte ein zaͤrtliches Herz, auch war ſie ſchoͤn und tugendſam.“
„Dieſe ging an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenſter zu ſtehen, der Vollmond ſchien ſo ſchoͤn in den Hof, es war Sommer und alles draußen ſo ſtill. Sie bekam Luſt, noch ein wenig herausgehen. Sie ging ſtill zur Hinterthuͤr hinaus in den Hof und aus dem Hof auf die Wieſe, die daran ſtieß. Hier ſetzte ſie ſich unter eine Hecke in den Schatten und ſang mit leiſer Stimme: „Weicht quaͤlende Gedanken!“ (Die- ſes war eben das Lied, welches Lieschen den Sonntag Abend
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ter die groͤßten Schoͤnheiten des ganzen Landes zaͤhlen mußte.
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Stilling ſpuͤrte, daß er mit dieſem Maͤdchen ſympathiſirte,
und ſie auch mit ihm, doch ohne Neigung, ſich zu heirathen. Sie
konnten Stunden lang zuſammenſitzen und ſingen, oder ſich etwas
erzaͤhlen, ohne daß etwas Vertrauliches mit unterlief, als blos
zaͤrtliche Freundſchaft. Was aber endlich daraus haͤtte werden
koͤnnen, wenn dieſer Umgang lange gedauert haͤtte, das will ich
nicht unterſuchen. Indeſſen genoß doch Stilling die Zeit
manche vergnuͤgte Stunde; und dieſes Vergnuͤgen wuͤrde voll-
kommner geweſen ſeyn, wenn er nicht noͤthig gehabt haͤtte, wie-
der zuruͤck nach Leindorf zu gehen.
An einem Sonntag Abend ſaß Stilling mit Lieschen
(ſo hieß das Maͤdchen) am Tiſch und ſangen zuſammen. Ob
nun das Lied einigen Eindruck auf ſie machte, oder ob ihr ſonſt
etwas Trauriges einfiel, weiß ich nicht, ſie fing herzlich an zu
weinen. Stilling fragte ſie, was ihr fehlte? Sie ſagte aber
nichts, ſondern ſtand auf und ging fort, kam auch dieſen Abend
nicht wieder. Sie blieb von der Zeit an melancholiſch, ohne
daß Stilling damals gewahr wurde, warum. Dieſe Veraͤn-
derung machte ihm Unruhe, und zu einer andern Zeit, da ſie beide
wiederum allein waren, ſetzte er ſo hart an ſie, daß ſie endlich
folgender Geſtalt anfing:
„Heinrich, ich kann und darf dir nicht ſagen, was mir
fehlt, ich will dir aber etwas erzaͤhlen: Es war einmal ein Maͤd-
chen, das war gut und fromm, und hatte keine Luſt zu unzuͤch-
tigem Leben; aber ſie hatte ein zaͤrtliches Herz, auch war ſie
ſchoͤn und tugendſam.“
„Dieſe ging an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans
Fenſter zu ſtehen, der Vollmond ſchien ſo ſchoͤn in den Hof, es
war Sommer und alles draußen ſo ſtill. Sie bekam Luſt, noch
ein wenig herausgehen. Sie ging ſtill zur Hinterthuͤr hinaus
in den Hof und aus dem Hof auf die Wieſe, die daran ſtieß.
Hier ſetzte ſie ſich unter eine Hecke in den Schatten und ſang
mit leiſer Stimme: „Weicht quaͤlende Gedanken!“ (Die-
ſes war eben das Lied, welches Lieschen den Sonntag Abend
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/190>, abgerufen am 24.11.2024.
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