"Familie treffen, und Stadt und Land werden "Fremde erben." Darauf ging er fort, und des folgen- den Tages wurde er abgesetzt und des Landes verwiesen. Doch hatte der Fürst hiebei keine Ruhe, denn nach zwei Jahren rief er ihn mit Ehren wieder zurück und gab ihm die beste Pfarre, die er in seinem Lande hatte. Dahlheims Weissa- gung wurde indessen erfüllt. Schon vor mehr als vierzig Jah- ren ist kein Zweig mehr von diesem fürstlichen Hause übrig gewesen. Doch ich kehre wieder zu meiner Geschichte.
Stilling konnte mit aller seiner Gutherzigkeit doch nicht verhüten, daß sich nicht Leute fanden, denen er in der Schule zu viel in Büchern las, es gab ein Gemurmel im Dorf, und viele vermutheten, daß die Kinder versäumt würden. Ganz unrecht hatten die Leute wohl nicht, aber doch auch nicht ganz recht; denn er sorgte noch so ziemlich, daß auch der Zweck, warum er da war, erreicht wurde. Es kam freilich den Bauern seltsam vor, so unerhörte Figuren an den Schulfenstern zu sehen, wie seine Sonnenuhren waren. Oftmalen standen zwei und mehrere auf der Straße still und sahen ihn am Fenster durch ein Gläschen nach der Sonne gucken; da sagte dann der Eine: der Kerl ist nicht gescheit! -- der Andere vermuthete, er betrachte den Himmelslauf, und Beide irrten sehr; es wa- ren nur Stücke zerbrochener Füße von Branntweingläsern. Diese hielt er vors Auge und betrachtete gegen die Sonne die herrlichen Farben in ihren mancherlei Gestalten, welches ihn, nicht ohne Ursache, königlich ergötzte.
Dieses Jahr ging nun wiederum so seinen Gang fort; Hand- werksgeschäfte, Schulhalten und verstohlne Lesestunden hatten darinnen beständig abgewechselt, bis er, kurz vor Michaelis, da er eben sein achtzehntes Jahr angetreten hatte, einen Brief von Herrn Pastor Goldmann empfing, der ihm eine schöne Schule an einer Kapelle zu Preisingen antrug. Dieses Dorf liegt zwei Stunden südwärts von Leindorf ab, in einem herrlichen breiten Thal. Stilling wurde über diesen Brief entzückt, daß er sich nicht zu fassen wußte; sein Vater und seine Mutter selber freuten sich über die Maßen. Stil- ling dankte Herrn Goldmann schriftlich für diese vortreff-
„Familie treffen, und Stadt und Land werden „Fremde erben.“ Darauf ging er fort, und des folgen- den Tages wurde er abgeſetzt und des Landes verwieſen. Doch hatte der Fuͤrſt hiebei keine Ruhe, denn nach zwei Jahren rief er ihn mit Ehren wieder zuruͤck und gab ihm die beſte Pfarre, die er in ſeinem Lande hatte. Dahlheims Weiſſa- gung wurde indeſſen erfuͤllt. Schon vor mehr als vierzig Jah- ren iſt kein Zweig mehr von dieſem fuͤrſtlichen Hauſe uͤbrig geweſen. Doch ich kehre wieder zu meiner Geſchichte.
Stilling konnte mit aller ſeiner Gutherzigkeit doch nicht verhuͤten, daß ſich nicht Leute fanden, denen er in der Schule zu viel in Buͤchern las, es gab ein Gemurmel im Dorf, und viele vermutheten, daß die Kinder verſaͤumt wuͤrden. Ganz unrecht hatten die Leute wohl nicht, aber doch auch nicht ganz recht; denn er ſorgte noch ſo ziemlich, daß auch der Zweck, warum er da war, erreicht wurde. Es kam freilich den Bauern ſeltſam vor, ſo unerhoͤrte Figuren an den Schulfenſtern zu ſehen, wie ſeine Sonnenuhren waren. Oftmalen ſtanden zwei und mehrere auf der Straße ſtill und ſahen ihn am Fenſter durch ein Glaͤschen nach der Sonne gucken; da ſagte dann der Eine: der Kerl iſt nicht geſcheit! — der Andere vermuthete, er betrachte den Himmelslauf, und Beide irrten ſehr; es wa- ren nur Stuͤcke zerbrochener Fuͤße von Branntweinglaͤſern. Dieſe hielt er vors Auge und betrachtete gegen die Sonne die herrlichen Farben in ihren mancherlei Geſtalten, welches ihn, nicht ohne Urſache, koͤniglich ergoͤtzte.
Dieſes Jahr ging nun wiederum ſo ſeinen Gang fort; Hand- werksgeſchaͤfte, Schulhalten und verſtohlne Leſeſtunden hatten darinnen beſtaͤndig abgewechſelt, bis er, kurz vor Michaelis, da er eben ſein achtzehntes Jahr angetreten hatte, einen Brief von Herrn Paſtor Goldmann empfing, der ihm eine ſchoͤne Schule an einer Kapelle zu Preiſingen antrug. Dieſes Dorf liegt zwei Stunden ſuͤdwaͤrts von Leindorf ab, in einem herrlichen breiten Thal. Stilling wurde uͤber dieſen Brief entzuͤckt, daß er ſich nicht zu faſſen wußte; ſein Vater und ſeine Mutter ſelber freuten ſich uͤber die Maßen. Stil- ling dankte Herrn Goldmann ſchriftlich fuͤr dieſe vortreff-
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„Familie treffen, und Stadt und Land werden
„Fremde erben.“ Darauf ging er fort, und des folgen-
den Tages wurde er abgeſetzt und des Landes verwieſen. Doch
hatte der Fuͤrſt hiebei keine Ruhe, denn nach zwei Jahren
rief er ihn mit Ehren wieder zuruͤck und gab ihm die beſte
Pfarre, die er in ſeinem Lande hatte. Dahlheims Weiſſa-
gung wurde indeſſen erfuͤllt. Schon vor mehr als vierzig Jah-
ren iſt kein Zweig mehr von dieſem fuͤrſtlichen Hauſe uͤbrig
geweſen. Doch ich kehre wieder zu meiner Geſchichte.
Stilling konnte mit aller ſeiner Gutherzigkeit doch nicht
verhuͤten, daß ſich nicht Leute fanden, denen er in der Schule
zu viel in Buͤchern las, es gab ein Gemurmel im Dorf, und
viele vermutheten, daß die Kinder verſaͤumt wuͤrden. Ganz
unrecht hatten die Leute wohl nicht, aber doch auch nicht ganz
recht; denn er ſorgte noch ſo ziemlich, daß auch der Zweck,
warum er da war, erreicht wurde. Es kam freilich den Bauern
ſeltſam vor, ſo unerhoͤrte Figuren an den Schulfenſtern zu
ſehen, wie ſeine Sonnenuhren waren. Oftmalen ſtanden zwei
und mehrere auf der Straße ſtill und ſahen ihn am Fenſter
durch ein Glaͤschen nach der Sonne gucken; da ſagte dann
der Eine: der Kerl iſt nicht geſcheit! — der Andere vermuthete,
er betrachte den Himmelslauf, und Beide irrten ſehr; es wa-
ren nur Stuͤcke zerbrochener Fuͤße von Branntweinglaͤſern.
Dieſe hielt er vors Auge und betrachtete gegen die Sonne die
herrlichen Farben in ihren mancherlei Geſtalten, welches ihn,
nicht ohne Urſache, koͤniglich ergoͤtzte.
Dieſes Jahr ging nun wiederum ſo ſeinen Gang fort; Hand-
werksgeſchaͤfte, Schulhalten und verſtohlne Leſeſtunden hatten
darinnen beſtaͤndig abgewechſelt, bis er, kurz vor Michaelis,
da er eben ſein achtzehntes Jahr angetreten hatte, einen Brief
von Herrn Paſtor Goldmann empfing, der ihm eine ſchoͤne
Schule an einer Kapelle zu Preiſingen antrug. Dieſes
Dorf liegt zwei Stunden ſuͤdwaͤrts von Leindorf ab, in
einem herrlichen breiten Thal. Stilling wurde uͤber dieſen
Brief entzuͤckt, daß er ſich nicht zu faſſen wußte; ſein Vater
und ſeine Mutter ſelber freuten ſich uͤber die Maßen. Stil-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/142>, abgerufen am 24.11.2024.
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