Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

erwiederte: das ist doch zu beklagen! alles, was du lernst,
bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich
ernähren könnte, dazu bist du ungeschickt. Stilling be-
trauerte selber seinen Zustand, denn das Schulhalten war
ihm auch zur Last, wenn er dabei keine Zeit zum Lesen hatte;
er sehnte sich deßwegen von seinem Vater ab und an einen
andern Ort zu kommen.

Zu Leindorf waren indessen die Leute ziemlich mit ihm
zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr hätten lernen
können: denn sein Wesen und sein Umgang mit den Kindern
gefiel ihnen. Auch der Herr Pastor Dahlheim, zu dessen
Kirchspiel Leindorf gehörte, ein Mann, der seinem Amt
Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte sich über die
Maßen, als er das Erstemal bei diesem vortrefflichen Mann
auf sein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren
und lag just auf einem Ruhebettchen, als er zur Thüre herein-
trat; er sprang auf, bot ihm die Hand und sagte: "Nehmt
"mir nicht übel, Schulmeister! daß ihr mich auf dem Bette
"findet, ich bin alt und meine Kräfte wanken." Stilling
wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thränen
die Wangen herab. Herr Pastor! antwortete er, es freut mich
recht sehr, unter ihrer Aufsicht Schule zu halten! Gott gebe
Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! "Ich danke
euch, lieber Schulmeister! erwiederte der edle Alte, ich bin,
Gott sey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich
freue mich recht auf meinen großen Sabbath." Stilling
ging nach Haus und unterwegs machte er die besondere An-
merkung: Herr Dahlheim müßte entweder ein Apostel oder
Herr Stollbein ein Baalspfaffe seyn.

Herr Dahlheim besuchte zuweilen die Leindorfer Schule,
wenn er auch dann eben nicht alles in gehöriger Ordnung fand, so
fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein, sondern er ermahnte
Stillingen ganz liebreich, dieses oder jenes abzuändern; und das
that bei einem so empfindsamen Gemüth immer die beste Wirkung.
Diese Behandlung des Herrn Pastors war wirklich zu bewundern,
denn er war ein jähzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen
die Laster, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht

erwiederte: das iſt doch zu beklagen! alles, was du lernſt,
bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich
ernaͤhren koͤnnte, dazu biſt du ungeſchickt. Stilling be-
trauerte ſelber ſeinen Zuſtand, denn das Schulhalten war
ihm auch zur Laſt, wenn er dabei keine Zeit zum Leſen hatte;
er ſehnte ſich deßwegen von ſeinem Vater ab und an einen
andern Ort zu kommen.

Zu Leindorf waren indeſſen die Leute ziemlich mit ihm
zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr haͤtten lernen
koͤnnen: denn ſein Weſen und ſein Umgang mit den Kindern
gefiel ihnen. Auch der Herr Paſtor Dahlheim, zu deſſen
Kirchſpiel Leindorf gehoͤrte, ein Mann, der ſeinem Amt
Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte ſich uͤber die
Maßen, als er das Erſtemal bei dieſem vortrefflichen Mann
auf ſein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren
und lag juſt auf einem Ruhebettchen, als er zur Thuͤre herein-
trat; er ſprang auf, bot ihm die Hand und ſagte: „Nehmt
„mir nicht uͤbel, Schulmeiſter! daß ihr mich auf dem Bette
„findet, ich bin alt und meine Kraͤfte wanken.“ Stilling
wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thraͤnen
die Wangen herab. Herr Paſtor! antwortete er, es freut mich
recht ſehr, unter ihrer Aufſicht Schule zu halten! Gott gebe
Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! „Ich danke
euch, lieber Schulmeiſter! erwiederte der edle Alte, ich bin,
Gott ſey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich
freue mich recht auf meinen großen Sabbath.“ Stilling
ging nach Haus und unterwegs machte er die beſondere An-
merkung: Herr Dahlheim muͤßte entweder ein Apoſtel oder
Herr Stollbein ein Baalspfaffe ſeyn.

Herr Dahlheim beſuchte zuweilen die Leindorfer Schule,
wenn er auch dann eben nicht alles in gehoͤriger Ordnung fand, ſo
fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein, ſondern er ermahnte
Stillingen ganz liebreich, dieſes oder jenes abzuaͤndern; und das
that bei einem ſo empfindſamen Gemuͤth immer die beſte Wirkung.
Dieſe Behandlung des Herrn Paſtors war wirklich zu bewundern,
denn er war ein jaͤhzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen
die Laſter, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0140" n="132"/>
erwiederte: das i&#x017F;t doch zu beklagen! alles, was du lern&#x017F;t,<lb/>
bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich<lb/>
erna&#x0364;hren ko&#x0364;nnte, dazu bi&#x017F;t du unge&#x017F;chickt. <hi rendition="#g">Stilling</hi> be-<lb/>
trauerte &#x017F;elber &#x017F;einen Zu&#x017F;tand, denn das Schulhalten war<lb/>
ihm auch zur La&#x017F;t, wenn er dabei keine Zeit zum Le&#x017F;en hatte;<lb/>
er &#x017F;ehnte &#x017F;ich deßwegen von &#x017F;einem Vater ab und an einen<lb/>
andern Ort zu kommen.</p><lb/>
            <p>Zu <hi rendition="#g">Leindorf</hi> waren inde&#x017F;&#x017F;en die Leute ziemlich mit ihm<lb/>
zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr ha&#x0364;tten lernen<lb/>
ko&#x0364;nnen: denn &#x017F;ein We&#x017F;en und &#x017F;ein Umgang mit den Kindern<lb/>
gefiel ihnen. Auch der Herr Pa&#x017F;tor <hi rendition="#g">Dahlheim</hi>, zu de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Kirch&#x017F;piel <hi rendition="#g">Leindorf</hi> geho&#x0364;rte, ein Mann, der &#x017F;einem Amt<lb/>
Ehre machte, liebte ihn. <hi rendition="#g">Stilling</hi> wunderte &#x017F;ich u&#x0364;ber die<lb/>
Maßen, als er das Er&#x017F;temal bei die&#x017F;em vortrefflichen Mann<lb/>
auf &#x017F;ein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren<lb/>
und lag ju&#x017F;t auf einem Ruhebettchen, als er zur Thu&#x0364;re herein-<lb/>
trat; er &#x017F;prang auf, bot ihm die Hand und &#x017F;agte: &#x201E;Nehmt<lb/>
&#x201E;mir nicht u&#x0364;bel, Schulmei&#x017F;ter! daß ihr mich auf dem Bette<lb/>
&#x201E;findet, ich bin alt und meine Kra&#x0364;fte wanken.&#x201C; <hi rendition="#g">Stilling</hi><lb/>
wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thra&#x0364;nen<lb/>
die Wangen herab. Herr Pa&#x017F;tor! antwortete er, es freut mich<lb/>
recht &#x017F;ehr, unter ihrer Auf&#x017F;icht Schule zu halten! Gott gebe<lb/>
Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! &#x201E;Ich danke<lb/>
euch, lieber Schulmei&#x017F;ter! erwiederte der edle Alte, ich bin,<lb/>
Gott &#x017F;ey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich<lb/>
freue mich recht auf meinen großen Sabbath.&#x201C; <hi rendition="#g">Stilling</hi><lb/>
ging nach Haus und unterwegs machte er die be&#x017F;ondere An-<lb/>
merkung: Herr <hi rendition="#g">Dahlheim</hi> mu&#x0364;ßte entweder ein Apo&#x017F;tel oder<lb/>
Herr <hi rendition="#g">Stollbein</hi> ein Baalspfaffe &#x017F;eyn.</p><lb/>
            <p>Herr <hi rendition="#g">Dahlheim</hi> be&#x017F;uchte zuweilen die Leindorfer Schule,<lb/>
wenn er auch dann eben nicht alles in geho&#x0364;riger Ordnung fand, &#x017F;o<lb/>
fuhr er nicht aus, wie Herr <hi rendition="#g">Stollbein</hi>, &#x017F;ondern er ermahnte<lb/>
Stillingen ganz liebreich, die&#x017F;es oder jenes abzua&#x0364;ndern; und das<lb/>
that bei einem &#x017F;o empfind&#x017F;amen Gemu&#x0364;th immer die be&#x017F;te Wirkung.<lb/>
Die&#x017F;e Behandlung des Herrn Pa&#x017F;tors war wirklich zu bewundern,<lb/>
denn er war ein ja&#x0364;hzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen<lb/>
die La&#x017F;ter, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0140] erwiederte: das iſt doch zu beklagen! alles, was du lernſt, bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich ernaͤhren koͤnnte, dazu biſt du ungeſchickt. Stilling be- trauerte ſelber ſeinen Zuſtand, denn das Schulhalten war ihm auch zur Laſt, wenn er dabei keine Zeit zum Leſen hatte; er ſehnte ſich deßwegen von ſeinem Vater ab und an einen andern Ort zu kommen. Zu Leindorf waren indeſſen die Leute ziemlich mit ihm zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr haͤtten lernen koͤnnen: denn ſein Weſen und ſein Umgang mit den Kindern gefiel ihnen. Auch der Herr Paſtor Dahlheim, zu deſſen Kirchſpiel Leindorf gehoͤrte, ein Mann, der ſeinem Amt Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte ſich uͤber die Maßen, als er das Erſtemal bei dieſem vortrefflichen Mann auf ſein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren und lag juſt auf einem Ruhebettchen, als er zur Thuͤre herein- trat; er ſprang auf, bot ihm die Hand und ſagte: „Nehmt „mir nicht uͤbel, Schulmeiſter! daß ihr mich auf dem Bette „findet, ich bin alt und meine Kraͤfte wanken.“ Stilling wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thraͤnen die Wangen herab. Herr Paſtor! antwortete er, es freut mich recht ſehr, unter ihrer Aufſicht Schule zu halten! Gott gebe Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! „Ich danke euch, lieber Schulmeiſter! erwiederte der edle Alte, ich bin, Gott ſey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich freue mich recht auf meinen großen Sabbath.“ Stilling ging nach Haus und unterwegs machte er die beſondere An- merkung: Herr Dahlheim muͤßte entweder ein Apoſtel oder Herr Stollbein ein Baalspfaffe ſeyn. Herr Dahlheim beſuchte zuweilen die Leindorfer Schule, wenn er auch dann eben nicht alles in gehoͤriger Ordnung fand, ſo fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein, ſondern er ermahnte Stillingen ganz liebreich, dieſes oder jenes abzuaͤndern; und das that bei einem ſo empfindſamen Gemuͤth immer die beſte Wirkung. Dieſe Behandlung des Herrn Paſtors war wirklich zu bewundern, denn er war ein jaͤhzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen die Laſter, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/140
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/140>, abgerufen am 27.11.2024.