Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.

Das Gemeinsame der Fälle, welche wir bisher betrachtet
haben, besteht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen selb-
ständigen Anspruch gegenüber stellt, ohne daß derselbe processua-
lisch im Mindesten sichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck
erst eines besondern Zuschnitts der Klagformel bedürfte. Die
Rücksicht auf das dem Beklagten zustehende Recht kann zwar in
einigen dieser Fälle dem Kläger Veranlassung geben, die Form
der processualischen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu
modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im eigenen
Interesse; für den Beklagten, um nämlich ihm die Möglichkeit
jenes Einwandes zu verschaffen, ist es nicht nöthig. Denn dieser
Einwand hält sich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in-
dem durch einen von der Jurisprudenz aufgestellten Rechtssatz dem
Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt ist, das des Klä-
gers ganz oder zum Theil ipso jure auszuschließen, -- und so
wenig es sonst für Gründe, welche dieselbe Wirkung äußern,
z. B. den Einwand der Zahlung eines besondern Vermerks in der
Klagformel bedarf, ebenso wenig für jenen Einwand.

Der Weg, den die Juristen hier eingeschlagen haben, der
einer Appretur des materiellen Rechts zu Gunsten processualischer
Zwecke oder, wenn ich so sagen darf, einer in einen Rechtssatz
versteckten Einrede wiederholt sich noch in manchen andern Fällen,
die nicht unter unsern Gesichtspunkt der Geltendmachung eines
Gegenanspruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man-
chen Sätzen des materiellen Rechts diesen, ich möchte sagen,
processualischen Zug nicht verkennen können. Wenn man
hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, 79) wer sollte
im ersten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an-
dere Erforderniß, so auch dieses, wenn es ihm bestritten wurde,
beweisen müsse? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um-
hin können, dies für widersinnig zu erklären. Aber welchen Sinn

79) L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum
esse dantem.
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.

Das Gemeinſame der Fälle, welche wir bisher betrachtet
haben, beſteht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen ſelb-
ſtändigen Anſpruch gegenüber ſtellt, ohne daß derſelbe proceſſua-
liſch im Mindeſten ſichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck
erſt eines beſondern Zuſchnitts der Klagformel bedürfte. Die
Rückſicht auf das dem Beklagten zuſtehende Recht kann zwar in
einigen dieſer Fälle dem Kläger Veranlaſſung geben, die Form
der proceſſualiſchen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu
modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im eigenen
Intereſſe; für den Beklagten, um nämlich ihm die Möglichkeit
jenes Einwandes zu verſchaffen, iſt es nicht nöthig. Denn dieſer
Einwand hält ſich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in-
dem durch einen von der Jurisprudenz aufgeſtellten Rechtsſatz dem
Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt iſt, das des Klä-
gers ganz oder zum Theil ipso jure auszuſchließen, — und ſo
wenig es ſonſt für Gründe, welche dieſelbe Wirkung äußern,
z. B. den Einwand der Zahlung eines beſondern Vermerks in der
Klagformel bedarf, ebenſo wenig für jenen Einwand.

Der Weg, den die Juriſten hier eingeſchlagen haben, der
einer Appretur des materiellen Rechts zu Gunſten proceſſualiſcher
Zwecke oder, wenn ich ſo ſagen darf, einer in einen Rechtsſatz
verſteckten Einrede wiederholt ſich noch in manchen andern Fällen,
die nicht unter unſern Geſichtspunkt der Geltendmachung eines
Gegenanſpruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man-
chen Sätzen des materiellen Rechts dieſen, ich möchte ſagen,
proceſſualiſchen Zug nicht verkennen können. Wenn man
hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, 79) wer ſollte
im erſten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an-
dere Erforderniß, ſo auch dieſes, wenn es ihm beſtritten wurde,
beweiſen müſſe? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um-
hin können, dies für widerſinnig zu erklären. Aber welchen Sinn

79) L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum
esse dantem.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <div n="10">
                          <div n="11">
                            <pb facs="#f0092" n="76"/>
                            <fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Die Analytik.</fw><lb/>
                            <p>Das Gemein&#x017F;ame der Fälle, welche wir bisher betrachtet<lb/>
haben, be&#x017F;teht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen &#x017F;elb-<lb/>
&#x017F;tändigen An&#x017F;pruch gegenüber &#x017F;tellt, ohne daß der&#x017F;elbe proce&#x017F;&#x017F;ua-<lb/>
li&#x017F;ch im Minde&#x017F;ten &#x017F;ichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck<lb/>
er&#x017F;t eines be&#x017F;ondern Zu&#x017F;chnitts der Klagformel bedürfte. Die<lb/>
Rück&#x017F;icht auf das dem Beklagten zu&#x017F;tehende Recht kann zwar in<lb/>
einigen die&#x017F;er Fälle dem Kläger Veranla&#x017F;&#x017F;ung geben, die Form<lb/>
der proce&#x017F;&#x017F;uali&#x017F;chen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu<lb/>
modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im <hi rendition="#g">eigenen</hi><lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;e; für den Beklagten, um nämlich <hi rendition="#g">ihm</hi> die Möglichkeit<lb/>
jenes Einwandes zu ver&#x017F;chaffen, i&#x017F;t es <hi rendition="#g">nicht</hi> nöthig. Denn die&#x017F;er<lb/>
Einwand hält &#x017F;ich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in-<lb/>
dem durch einen von der Jurisprudenz aufge&#x017F;tellten Rechts&#x017F;atz dem<lb/>
Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt i&#x017F;t, das des Klä-<lb/>
gers ganz oder zum Theil <hi rendition="#aq">ipso jure</hi> auszu&#x017F;chließen, &#x2014; und &#x017F;o<lb/>
wenig es &#x017F;on&#x017F;t für Gründe, welche die&#x017F;elbe Wirkung äußern,<lb/>
z. B. den Einwand der Zahlung eines be&#x017F;ondern Vermerks in der<lb/>
Klagformel bedarf, eben&#x017F;o wenig für <hi rendition="#g">jenen</hi> Einwand.</p><lb/>
                            <p>Der Weg, den die Juri&#x017F;ten hier einge&#x017F;chlagen haben, der<lb/>
einer Appretur des materiellen Rechts zu Gun&#x017F;ten proce&#x017F;&#x017F;uali&#x017F;cher<lb/>
Zwecke oder, wenn ich &#x017F;o &#x017F;agen darf, einer in einen Rechts&#x017F;atz<lb/>
ver&#x017F;teckten Einrede wiederholt &#x017F;ich noch in manchen andern Fällen,<lb/>
die nicht unter un&#x017F;ern Ge&#x017F;ichtspunkt der Geltendmachung eines<lb/>
Gegenan&#x017F;pruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man-<lb/>
chen Sätzen des materiellen Rechts die&#x017F;en, ich möchte &#x017F;agen,<lb/><hi rendition="#g">proce&#x017F;&#x017F;uali&#x017F;chen Zug</hi> nicht verkennen können. Wenn man<lb/>
hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, <note place="foot" n="79)"><hi rendition="#aq">L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum<lb/>
esse dantem.</hi></note> wer &#x017F;ollte<lb/>
im er&#x017F;ten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an-<lb/>
dere Erforderniß, &#x017F;o auch die&#x017F;es, wenn es ihm be&#x017F;tritten wurde,<lb/>
bewei&#x017F;en mü&#x017F;&#x017F;e? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um-<lb/>
hin können, dies für wider&#x017F;innig zu erklären. Aber welchen Sinn<lb/></p>
                          </div>
                        </div>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0092] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. Das Gemeinſame der Fälle, welche wir bisher betrachtet haben, beſteht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen ſelb- ſtändigen Anſpruch gegenüber ſtellt, ohne daß derſelbe proceſſua- liſch im Mindeſten ſichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck erſt eines beſondern Zuſchnitts der Klagformel bedürfte. Die Rückſicht auf das dem Beklagten zuſtehende Recht kann zwar in einigen dieſer Fälle dem Kläger Veranlaſſung geben, die Form der proceſſualiſchen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im eigenen Intereſſe; für den Beklagten, um nämlich ihm die Möglichkeit jenes Einwandes zu verſchaffen, iſt es nicht nöthig. Denn dieſer Einwand hält ſich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in- dem durch einen von der Jurisprudenz aufgeſtellten Rechtsſatz dem Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt iſt, das des Klä- gers ganz oder zum Theil ipso jure auszuſchließen, — und ſo wenig es ſonſt für Gründe, welche dieſelbe Wirkung äußern, z. B. den Einwand der Zahlung eines beſondern Vermerks in der Klagformel bedarf, ebenſo wenig für jenen Einwand. Der Weg, den die Juriſten hier eingeſchlagen haben, der einer Appretur des materiellen Rechts zu Gunſten proceſſualiſcher Zwecke oder, wenn ich ſo ſagen darf, einer in einen Rechtsſatz verſteckten Einrede wiederholt ſich noch in manchen andern Fällen, die nicht unter unſern Geſichtspunkt der Geltendmachung eines Gegenanſpruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man- chen Sätzen des materiellen Rechts dieſen, ich möchte ſagen, proceſſualiſchen Zug nicht verkennen können. Wenn man hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, 79) wer ſollte im erſten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an- dere Erforderniß, ſo auch dieſes, wenn es ihm beſtritten wurde, beweiſen müſſe? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um- hin können, dies für widerſinnig zu erklären. Aber welchen Sinn 79) L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum esse dantem.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/92
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/92>, abgerufen am 05.10.2024.