Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
und Gegenanspruch stehen hier im engsten Zusammenhange, im
Verhältniß gegenseitiger Abhängigkeit, und der Aufenthalt, den
der Beklagte veranlaßt, gleicht nur den Vorsprung aus, den der
Kläger dadurch vor ihm voraus hat, daß er vor dem Proceß
thun konnte, was der Beklagte während desselben thun muß.
So hat es denn auch das römische Recht von jeher, seitdem die
zweiseitigen Geschäfte als solche klagbar wurden, gehalten. Eine
ganz andere Behandlungsweise aber trat in dem Fall ein, wenn
die Partheien ihr Geschäft in die Form von zwei einseitigen Ver-
trägen (Stipulationen) kleideten, wie sie vor dem angegebenen
Zeitpunkt es mußten, nachher aber es noch stets konnten
und sehr häufig thaten. Hier stand jeder Anspruch für sich, und
es entsprach nur dem Willen beider Partheien, daß der eine in
seiner gerichtlichen Geltendmachung durch den andern nicht ge-
hemmt werden sollte; hätten sie das Gegentheil gewollt, so
hätten sie dies auf dem Wege der bedingten Fassung beider Sti-
pulationen erreichen können. Das neuere römische Recht hat
auch hier aus Gründen, auf die ich erst am Ende des Para-
graphen eingehen kann, die Form der exceptionsweisen
Geltendmachung der Gegenforderung zugelassen, so daß also --
und dies verdient sicherlich keine Billigung -- das Recht den
Partheien die Möglichkeit, ihrem Verhältniß die angegebene
Form zu geben geradezu abschneidet.

Was im Bisherigen von ursprünglich zweiseitigen Geschäften
gesagt ist, gilt natürlich in um so höherem Maße von ursprünglich
einseitigen, und ich kann es auch hier wiederum nicht für eine
glückliche Aenderung halten, wenn das neuere Recht alle
Gründe, mit denen der Beklagte im Wege der Klage ihre Wirksam-
keit beseitigen kann, auch in Form der Einrede zuläßt und das
ganz allgemeine Princip aufstellt: wer eine Klage habe, dem sei
auch eine Einrede zu gewähren. 39) Die bedenklichste Anwendung,

39) L. 156 §. 1 de R. J. (50. 17) cui damus actiones, eidem et ex-
ceptionem competere multo magis quis dixerit.
Der Satz erleidet jedoch

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
und Gegenanſpruch ſtehen hier im engſten Zuſammenhange, im
Verhältniß gegenſeitiger Abhängigkeit, und der Aufenthalt, den
der Beklagte veranlaßt, gleicht nur den Vorſprung aus, den der
Kläger dadurch vor ihm voraus hat, daß er vor dem Proceß
thun konnte, was der Beklagte während deſſelben thun muß.
So hat es denn auch das römiſche Recht von jeher, ſeitdem die
zweiſeitigen Geſchäfte als ſolche klagbar wurden, gehalten. Eine
ganz andere Behandlungsweiſe aber trat in dem Fall ein, wenn
die Partheien ihr Geſchäft in die Form von zwei einſeitigen Ver-
trägen (Stipulationen) kleideten, wie ſie vor dem angegebenen
Zeitpunkt es mußten, nachher aber es noch ſtets konnten
und ſehr häufig thaten. Hier ſtand jeder Anſpruch für ſich, und
es entſprach nur dem Willen beider Partheien, daß der eine in
ſeiner gerichtlichen Geltendmachung durch den andern nicht ge-
hemmt werden ſollte; hätten ſie das Gegentheil gewollt, ſo
hätten ſie dies auf dem Wege der bedingten Faſſung beider Sti-
pulationen erreichen können. Das neuere römiſche Recht hat
auch hier aus Gründen, auf die ich erſt am Ende des Para-
graphen eingehen kann, die Form der exceptionsweiſen
Geltendmachung der Gegenforderung zugelaſſen, ſo daß alſo —
und dies verdient ſicherlich keine Billigung — das Recht den
Partheien die Möglichkeit, ihrem Verhältniß die angegebene
Form zu geben geradezu abſchneidet.

Was im Bisherigen von urſprünglich zweiſeitigen Geſchäften
geſagt iſt, gilt natürlich in um ſo höherem Maße von urſprünglich
einſeitigen, und ich kann es auch hier wiederum nicht für eine
glückliche Aenderung halten, wenn das neuere Recht alle
Gründe, mit denen der Beklagte im Wege der Klage ihre Wirkſam-
keit beſeitigen kann, auch in Form der Einrede zuläßt und das
ganz allgemeine Princip aufſtellt: wer eine Klage habe, dem ſei
auch eine Einrede zu gewähren. 39) Die bedenklichſte Anwendung,

39) L. 156 §. 1 de R. J. (50. 17) cui damus actiones, eidem et ex-
ceptionem competere multo magis quis dixerit.
Der Satz erleidet jedoch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0068" n="52"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Die Analytik.</fw><lb/>
und Gegenan&#x017F;pruch &#x017F;tehen hier im eng&#x017F;ten Zu&#x017F;ammenhange, im<lb/>
Verhältniß gegen&#x017F;eitiger Abhängigkeit, und der Aufenthalt, den<lb/>
der Beklagte veranlaßt, gleicht nur den Vor&#x017F;prung aus, den der<lb/>
Kläger dadurch vor ihm voraus hat, daß er <hi rendition="#g">vor</hi> dem Proceß<lb/>
thun konnte, was der Beklagte <hi rendition="#g">während</hi> de&#x017F;&#x017F;elben thun muß.<lb/>
So hat es denn auch das römi&#x017F;che Recht von jeher, &#x017F;eitdem die<lb/>
zwei&#x017F;eitigen Ge&#x017F;chäfte als &#x017F;olche klagbar wurden, gehalten. Eine<lb/>
ganz andere Behandlungswei&#x017F;e aber trat in dem Fall ein, wenn<lb/>
die Partheien ihr Ge&#x017F;chäft in die Form von zwei ein&#x017F;eitigen Ver-<lb/>
trägen (Stipulationen) kleideten, wie &#x017F;ie <hi rendition="#g">vor</hi> dem angegebenen<lb/>
Zeitpunkt es <hi rendition="#g">mußten</hi>, nachher aber es noch &#x017F;tets <hi rendition="#g">konnten</hi><lb/>
und &#x017F;ehr häufig thaten. Hier &#x017F;tand jeder An&#x017F;pruch für &#x017F;ich, und<lb/>
es ent&#x017F;prach nur dem Willen beider Partheien, daß der eine in<lb/>
&#x017F;einer gerichtlichen Geltendmachung durch den andern nicht ge-<lb/>
hemmt werden &#x017F;ollte; hätten &#x017F;ie das Gegentheil gewollt, &#x017F;o<lb/>
hätten &#x017F;ie dies auf dem Wege der bedingten Fa&#x017F;&#x017F;ung beider Sti-<lb/>
pulationen erreichen können. Das neuere römi&#x017F;che Recht hat<lb/>
auch hier aus Gründen, auf die ich er&#x017F;t am Ende des Para-<lb/>
graphen eingehen kann, die Form der <hi rendition="#g">exceptionswei&#x017F;en</hi><lb/>
Geltendmachung der Gegenforderung zugela&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o daß al&#x017F;o &#x2014;<lb/>
und dies verdient &#x017F;icherlich keine Billigung &#x2014; das Recht den<lb/>
Partheien die Möglichkeit, ihrem Verhältniß die angegebene<lb/>
Form zu geben geradezu ab&#x017F;chneidet.</p><lb/>
                      <p>Was im Bisherigen von ur&#x017F;prünglich zwei&#x017F;eitigen Ge&#x017F;chäften<lb/>
ge&#x017F;agt i&#x017F;t, gilt natürlich in um &#x017F;o höherem Maße von ur&#x017F;prünglich<lb/>
ein&#x017F;eitigen, und ich kann es auch hier wiederum nicht für eine<lb/><hi rendition="#g">glückliche</hi> Aenderung halten, wenn das neuere Recht alle<lb/>
Gründe, mit denen der Beklagte im Wege der Klage ihre Wirk&#x017F;am-<lb/>
keit be&#x017F;eitigen kann, auch in Form der Einrede zuläßt und das<lb/>
ganz allgemeine Princip auf&#x017F;tellt: wer eine Klage habe, dem &#x017F;ei<lb/>
auch eine Einrede zu gewähren. <note xml:id="seg2pn_4_1" next="#seg2pn_4_2" place="foot" n="39)"><hi rendition="#aq">L. 156 §. 1 de R. J. (50. 17) cui damus actiones, eidem et ex-<lb/>
ceptionem competere multo magis quis dixerit.</hi> Der Satz erleidet jedoch</note> Die bedenklich&#x017F;te Anwendung,<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0068] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. und Gegenanſpruch ſtehen hier im engſten Zuſammenhange, im Verhältniß gegenſeitiger Abhängigkeit, und der Aufenthalt, den der Beklagte veranlaßt, gleicht nur den Vorſprung aus, den der Kläger dadurch vor ihm voraus hat, daß er vor dem Proceß thun konnte, was der Beklagte während deſſelben thun muß. So hat es denn auch das römiſche Recht von jeher, ſeitdem die zweiſeitigen Geſchäfte als ſolche klagbar wurden, gehalten. Eine ganz andere Behandlungsweiſe aber trat in dem Fall ein, wenn die Partheien ihr Geſchäft in die Form von zwei einſeitigen Ver- trägen (Stipulationen) kleideten, wie ſie vor dem angegebenen Zeitpunkt es mußten, nachher aber es noch ſtets konnten und ſehr häufig thaten. Hier ſtand jeder Anſpruch für ſich, und es entſprach nur dem Willen beider Partheien, daß der eine in ſeiner gerichtlichen Geltendmachung durch den andern nicht ge- hemmt werden ſollte; hätten ſie das Gegentheil gewollt, ſo hätten ſie dies auf dem Wege der bedingten Faſſung beider Sti- pulationen erreichen können. Das neuere römiſche Recht hat auch hier aus Gründen, auf die ich erſt am Ende des Para- graphen eingehen kann, die Form der exceptionsweiſen Geltendmachung der Gegenforderung zugelaſſen, ſo daß alſo — und dies verdient ſicherlich keine Billigung — das Recht den Partheien die Möglichkeit, ihrem Verhältniß die angegebene Form zu geben geradezu abſchneidet. Was im Bisherigen von urſprünglich zweiſeitigen Geſchäften geſagt iſt, gilt natürlich in um ſo höherem Maße von urſprünglich einſeitigen, und ich kann es auch hier wiederum nicht für eine glückliche Aenderung halten, wenn das neuere Recht alle Gründe, mit denen der Beklagte im Wege der Klage ihre Wirkſam- keit beſeitigen kann, auch in Form der Einrede zuläßt und das ganz allgemeine Princip aufſtellt: wer eine Klage habe, dem ſei auch eine Einrede zu gewähren. 39) Die bedenklichſte Anwendung, 39) L. 156 §. 1 de R. J. (50. 17) cui damus actiones, eidem et ex- ceptionem competere multo magis quis dixerit. Der Satz erleidet jedoch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/68
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/68>, abgerufen am 25.11.2024.