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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
mehr in einer Weise widerstrebt, die sie selbst zur Unmöglichkeit
stempeln mußte. 21)

Verfolgen wir diesen Weg weiter, so führt er uns von selbst
zum Ziel. Warum wäre es sinnlos gewesen, die zehn Gegen-
stände der Stipulation durch zehn besondere Klagen verfolgen zu
lassen? Weil der Richter in den zehn Processen immer eine und
dieselbe Frage hätte behandeln, immer auf einen und denselben
Klaggrund, mit dem sämmtliche Klagen stehen und fallen, hätte
zurückkommen müssen. Keine derselben weicht von der andern
auch nur im mindesten ab; was sie haben, haben sie sämmtlich
gemein, und ob der Richter bloß eine von ihnen oder alle zehn
auf ein Mal entscheidet, die Mühe ist ganz dieselbe. Vom
Standpunkte des Richters aus -- und der soll ja für die Frage
von der Scheidung der maßgebende sein -- bedarf es hier nur
einer Untersuchung, das heißt aber m. a. W.: es liegt hier
eine Klage, ein Anspruch vor.

Ganz anders bei der Vindication einer Mehrheit von Ge-
genständen. Die Untersuchung muß hier auf jeden einzelnen
Gegenstand allein gerichtet werden, 22) denn aus dem Eigenthum

21) L. 29 pr. de V. O. (45. 1) .. nam per singulos -- denarios
singulas esse stipulationes -- absurdum est
.
22) Bei einer Heerde, die als solche bisher bereits existirt d. h., wenn
ich so sagen darf, eine landwirthschaftliche, sich stets selbst erhaltende Größe
und Einheit gebildet hat (also nicht z. B. bei hundert Schafen, die ein Metz-
ger auf dem Markt zusammen gekauft hat), läßt das römische Recht eine
Vindication zu. Es heißt nur einen andern Ausdruck gebrauchen, wenn
man sagt: die Heerde bilde einen Gegenstand (universitas); erklärt ist
damit gar nichts, namentlich nicht, warum dieselbe Behandlungsweise nicht
auch bei andern Sachen-Complexen z. B. einer Bibliothek eintritt. Die Er-
klärung liegt m. E. in dem eigenthümlichen Verhältniß der Ergänzung der
Heerde aus sich selbst, welches nach Grundsätzen über den Fruchterwerb für
Eigenthümer und gutgläubigen Besitzer Eigenthum bewirkt und präsumtiv alle
Stücke der Heerde ergreift, für die nicht das Gegentheil nachgewiesen wird.
Die Vindication der Heerde stimmt also mit dem Grundsatz: eine Frage
eine Klage
, denn der Richter hat bei ihr trotz der Mehrheit der Gegen-
stände doch bloß eine und dieselbe Frage zu entscheiden. Dies schließt nicht aus,

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
mehr in einer Weiſe widerſtrebt, die ſie ſelbſt zur Unmöglichkeit
ſtempeln mußte. 21)

Verfolgen wir dieſen Weg weiter, ſo führt er uns von ſelbſt
zum Ziel. Warum wäre es ſinnlos geweſen, die zehn Gegen-
ſtände der Stipulation durch zehn beſondere Klagen verfolgen zu
laſſen? Weil der Richter in den zehn Proceſſen immer eine und
dieſelbe Frage hätte behandeln, immer auf einen und denſelben
Klaggrund, mit dem ſämmtliche Klagen ſtehen und fallen, hätte
zurückkommen müſſen. Keine derſelben weicht von der andern
auch nur im mindeſten ab; was ſie haben, haben ſie ſämmtlich
gemein, und ob der Richter bloß eine von ihnen oder alle zehn
auf ein Mal entſcheidet, die Mühe iſt ganz dieſelbe. Vom
Standpunkte des Richters aus — und der ſoll ja für die Frage
von der Scheidung der maßgebende ſein — bedarf es hier nur
einer Unterſuchung, das heißt aber m. a. W.: es liegt hier
eine Klage, ein Anſpruch vor.

Ganz anders bei der Vindication einer Mehrheit von Ge-
genſtänden. Die Unterſuchung muß hier auf jeden einzelnen
Gegenſtand allein gerichtet werden, 22) denn aus dem Eigenthum

21) L. 29 pr. de V. O. (45. 1) .. nam per singulos — denarios
singulas esse stipulationes — absurdum est
.
22) Bei einer Heerde, die als ſolche bisher bereits exiſtirt d. h., wenn
ich ſo ſagen darf, eine landwirthſchaftliche, ſich ſtets ſelbſt erhaltende Größe
und Einheit gebildet hat (alſo nicht z. B. bei hundert Schafen, die ein Metz-
ger auf dem Markt zuſammen gekauft hat), läßt das römiſche Recht eine
Vindication zu. Es heißt nur einen andern Ausdruck gebrauchen, wenn
man ſagt: die Heerde bilde einen Gegenſtand (universitas); erklärt iſt
damit gar nichts, namentlich nicht, warum dieſelbe Behandlungsweiſe nicht
auch bei andern Sachen-Complexen z. B. einer Bibliothek eintritt. Die Er-
klärung liegt m. E. in dem eigenthümlichen Verhältniß der Ergänzung der
Heerde aus ſich ſelbſt, welches nach Grundſätzen über den Fruchterwerb für
Eigenthümer und gutgläubigen Beſitzer Eigenthum bewirkt und präſumtiv alle
Stücke der Heerde ergreift, für die nicht das Gegentheil nachgewieſen wird.
Die Vindication der Heerde ſtimmt alſo mit dem Grundſatz: eine Frage
eine Klage
, denn der Richter hat bei ihr trotz der Mehrheit der Gegen-
ſtände doch bloß eine und dieſelbe Frage zu entſcheiden. Dies ſchließt nicht aus,
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[38/0054] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. mehr in einer Weiſe widerſtrebt, die ſie ſelbſt zur Unmöglichkeit ſtempeln mußte. 21) Verfolgen wir dieſen Weg weiter, ſo führt er uns von ſelbſt zum Ziel. Warum wäre es ſinnlos geweſen, die zehn Gegen- ſtände der Stipulation durch zehn beſondere Klagen verfolgen zu laſſen? Weil der Richter in den zehn Proceſſen immer eine und dieſelbe Frage hätte behandeln, immer auf einen und denſelben Klaggrund, mit dem ſämmtliche Klagen ſtehen und fallen, hätte zurückkommen müſſen. Keine derſelben weicht von der andern auch nur im mindeſten ab; was ſie haben, haben ſie ſämmtlich gemein, und ob der Richter bloß eine von ihnen oder alle zehn auf ein Mal entſcheidet, die Mühe iſt ganz dieſelbe. Vom Standpunkte des Richters aus — und der ſoll ja für die Frage von der Scheidung der maßgebende ſein — bedarf es hier nur einer Unterſuchung, das heißt aber m. a. W.: es liegt hier eine Klage, ein Anſpruch vor. Ganz anders bei der Vindication einer Mehrheit von Ge- genſtänden. Die Unterſuchung muß hier auf jeden einzelnen Gegenſtand allein gerichtet werden, 22) denn aus dem Eigenthum 21) L. 29 pr. de V. O. (45. 1) .. nam per singulos — denarios singulas esse stipulationes — absurdum est. 22) Bei einer Heerde, die als ſolche bisher bereits exiſtirt d. h., wenn ich ſo ſagen darf, eine landwirthſchaftliche, ſich ſtets ſelbſt erhaltende Größe und Einheit gebildet hat (alſo nicht z. B. bei hundert Schafen, die ein Metz- ger auf dem Markt zuſammen gekauft hat), läßt das römiſche Recht eine Vindication zu. Es heißt nur einen andern Ausdruck gebrauchen, wenn man ſagt: die Heerde bilde einen Gegenſtand (universitas); erklärt iſt damit gar nichts, namentlich nicht, warum dieſelbe Behandlungsweiſe nicht auch bei andern Sachen-Complexen z. B. einer Bibliothek eintritt. Die Er- klärung liegt m. E. in dem eigenthümlichen Verhältniß der Ergänzung der Heerde aus ſich ſelbſt, welches nach Grundſätzen über den Fruchterwerb für Eigenthümer und gutgläubigen Beſitzer Eigenthum bewirkt und präſumtiv alle Stücke der Heerde ergreift, für die nicht das Gegentheil nachgewieſen wird. Die Vindication der Heerde ſtimmt alſo mit dem Grundſatz: eine Frage eine Klage, denn der Richter hat bei ihr trotz der Mehrheit der Gegen- ſtände doch bloß eine und dieſelbe Frage zu entſcheiden. Dies ſchließt nicht aus,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/54>, abgerufen am 12.10.2024.