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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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I. Substant. Moment des Rechts. -- Willensformalismus. §. 60.
dürfniß, das die thierische Natur des Menschen begründet, und
dessen Befriedigung in der gesicherten Form des Rechts einer
der ersten Zwecke aller fubjectiven Rechte ist, dies Bedürfniß ist
bei jenen Personen in nicht minderem Grade vorhanden, als bei
allen andern, und je weniger ihnen selber die Fähigkeit zusteht
für die Befriedigung desselben Sorge zu tragen, um so mehr ist
dies Aufgabe des Staats. Jene philosophischen Rechtsträger,
deren Dasein erst mit dem Eintritt des Willensvermögens be-
ginnt, sind freilich so glücklich disponirt, daß sie das Organ,
mit dem der natürliche Mensch sich zuerst mit den Dingen der
Außenwelt in Rapport setzt: den Magen, überall nicht besitzen,
aber sie leben eben auch nicht,

Denn wenn er keinen Magen hat
Wie soll der Edle leben?

Daß die Bedürfnisse und Interessen dieser Personen nicht auf
das rein Thierische beschränkt sind, daß das Vermögen vielmehr
auch bei ihnen einer Verwendung für höhere Zwecke (z. B. Er-
ziehung) fähig ist, wird nicht erst der Bemerkung bedürfen. Daß
die Verwendung desselben nicht durch sie erfolgt, ist gleichgül-

Schule (Ahrens, Röder), diese Seite des Rechtsbegriffs, die ich im Fol-
genden als das substantielle Moment desselben bezeichnen und weiter aus-
führen werde, richtig erkannt zu haben, wogegen sie freilich die formale Seite
desselben (§. 61) viel zu wenig betont. Uebrigens liegt jene Seite zu nahe,
als daß sie sich der unbefangenen Betrachtung je hätte entziehen können, und
schon Leibnitz (ich bin gezwungen, dies Ahrens nachzusprechen) hat sie her-
vorgehoben. Stahl in seiner Rechtsphilosophie hat sich zwar von dem
obigen Willensformalismus frei gehalteu, allein über einzelne Aeußerungen,
die sich in dem entgegengesetzten Sinn deuten lassen, geht es bei ihm nicht
hinaus, s. z. B. Aufl. 2. B. 2. S. 219: "Auch ist das Recht im subjec-
tiven Sinn nicht sowohl Wille, sondern vielmehr Macht, die ein Wille (rich-
tiger eine Persönlichkeit) über andere Willen hat" S. 221. Nur rück-
sichtlich des Vermögensrechts hebt er S. 282 die Befriedigung des Bedürf-
nisses als bildenden Trieb desselben hervor, ohne aber die darin gelegenen
Consequenzen weder an dieser, noch späterer Stelle weiter zu verfolgen.
Was er S. 283 über das römische Recht sagt, zeugt nicht von einer Beherr-
schung der hier einschlagenden Begriffe.

I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60.
dürfniß, das die thieriſche Natur des Menſchen begründet, und
deſſen Befriedigung in der geſicherten Form des Rechts einer
der erſten Zwecke aller fubjectiven Rechte iſt, dies Bedürfniß iſt
bei jenen Perſonen in nicht minderem Grade vorhanden, als bei
allen andern, und je weniger ihnen ſelber die Fähigkeit zuſteht
für die Befriedigung deſſelben Sorge zu tragen, um ſo mehr iſt
dies Aufgabe des Staats. Jene philoſophiſchen Rechtsträger,
deren Daſein erſt mit dem Eintritt des Willensvermögens be-
ginnt, ſind freilich ſo glücklich disponirt, daß ſie das Organ,
mit dem der natürliche Menſch ſich zuerſt mit den Dingen der
Außenwelt in Rapport ſetzt: den Magen, überall nicht beſitzen,
aber ſie leben eben auch nicht,

Denn wenn er keinen Magen hat
Wie ſoll der Edle leben?

Daß die Bedürfniſſe und Intereſſen dieſer Perſonen nicht auf
das rein Thieriſche beſchränkt ſind, daß das Vermögen vielmehr
auch bei ihnen einer Verwendung für höhere Zwecke (z. B. Er-
ziehung) fähig iſt, wird nicht erſt der Bemerkung bedürfen. Daß
die Verwendung deſſelben nicht durch ſie erfolgt, iſt gleichgül-

Schule (Ahrens, Röder), dieſe Seite des Rechtsbegriffs, die ich im Fol-
genden als das ſubſtantielle Moment deſſelben bezeichnen und weiter aus-
führen werde, richtig erkannt zu haben, wogegen ſie freilich die formale Seite
deſſelben (§. 61) viel zu wenig betont. Uebrigens liegt jene Seite zu nahe,
als daß ſie ſich der unbefangenen Betrachtung je hätte entziehen können, und
ſchon Leibnitz (ich bin gezwungen, dies Ahrens nachzuſprechen) hat ſie her-
vorgehoben. Stahl in ſeiner Rechtsphiloſophie hat ſich zwar von dem
obigen Willensformalismus frei gehalteu, allein über einzelne Aeußerungen,
die ſich in dem entgegengeſetzten Sinn deuten laſſen, geht es bei ihm nicht
hinaus, ſ. z. B. Aufl. 2. B. 2. S. 219: „Auch iſt das Recht im ſubjec-
tiven Sinn nicht ſowohl Wille, ſondern vielmehr Macht, die ein Wille (rich-
tiger eine Perſönlichkeit) über andere Willen hat“ S. 221. Nur rück-
ſichtlich des Vermögensrechts hebt er S. 282 die Befriedigung des Bedürf-
niſſes als bildenden Trieb deſſelben hervor, ohne aber die darin gelegenen
Conſequenzen weder an dieſer, noch ſpäterer Stelle weiter zu verfolgen.
Was er S. 283 über das römiſche Recht ſagt, zeugt nicht von einer Beherr-
ſchung der hier einſchlagenden Begriffe.
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[313/0329] I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60. dürfniß, das die thieriſche Natur des Menſchen begründet, und deſſen Befriedigung in der geſicherten Form des Rechts einer der erſten Zwecke aller fubjectiven Rechte iſt, dies Bedürfniß iſt bei jenen Perſonen in nicht minderem Grade vorhanden, als bei allen andern, und je weniger ihnen ſelber die Fähigkeit zuſteht für die Befriedigung deſſelben Sorge zu tragen, um ſo mehr iſt dies Aufgabe des Staats. Jene philoſophiſchen Rechtsträger, deren Daſein erſt mit dem Eintritt des Willensvermögens be- ginnt, ſind freilich ſo glücklich disponirt, daß ſie das Organ, mit dem der natürliche Menſch ſich zuerſt mit den Dingen der Außenwelt in Rapport ſetzt: den Magen, überall nicht beſitzen, aber ſie leben eben auch nicht, Denn wenn er keinen Magen hat Wie ſoll der Edle leben? Daß die Bedürfniſſe und Intereſſen dieſer Perſonen nicht auf das rein Thieriſche beſchränkt ſind, daß das Vermögen vielmehr auch bei ihnen einer Verwendung für höhere Zwecke (z. B. Er- ziehung) fähig iſt, wird nicht erſt der Bemerkung bedürfen. Daß die Verwendung deſſelben nicht durch ſie erfolgt, iſt gleichgül- 441) 441) Schule (Ahrens, Röder), dieſe Seite des Rechtsbegriffs, die ich im Fol- genden als das ſubſtantielle Moment deſſelben bezeichnen und weiter aus- führen werde, richtig erkannt zu haben, wogegen ſie freilich die formale Seite deſſelben (§. 61) viel zu wenig betont. Uebrigens liegt jene Seite zu nahe, als daß ſie ſich der unbefangenen Betrachtung je hätte entziehen können, und ſchon Leibnitz (ich bin gezwungen, dies Ahrens nachzuſprechen) hat ſie her- vorgehoben. Stahl in ſeiner Rechtsphiloſophie hat ſich zwar von dem obigen Willensformalismus frei gehalteu, allein über einzelne Aeußerungen, die ſich in dem entgegengeſetzten Sinn deuten laſſen, geht es bei ihm nicht hinaus, ſ. z. B. Aufl. 2. B. 2. S. 219: „Auch iſt das Recht im ſubjec- tiven Sinn nicht ſowohl Wille, ſondern vielmehr Macht, die ein Wille (rich- tiger eine Perſönlichkeit) über andere Willen hat“ S. 221. Nur rück- ſichtlich des Vermögensrechts hebt er S. 282 die Befriedigung des Bedürf- niſſes als bildenden Trieb deſſelben hervor, ohne aber die darin gelegenen Conſequenzen weder an dieſer, noch ſpäterer Stelle weiter zu verfolgen. Was er S. 283 über das römiſche Recht ſagt, zeugt nicht von einer Beherr- ſchung der hier einſchlagenden Begriffe.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/329>, abgerufen am 22.11.2024.