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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Die Schleichwege des Lebens. §. 57.
dazu gegeben haben, denn selbst in Anwendung auf erlaubte
Zwecke enthält eine solche Verwendung der Ehe als bloßer Form
eine Versündigung gegen ihr wahres Wesen und zugleich das
Signal, sich ihrer auch zu andern, minder beifallswürdigen
Zwecken zu bedienen, kurz sie schlechthin als juristisches In-
strument zu betrachten. Das ist überhaupt die dunkle Kehrseite
jener einseitig juristischen Lebensauffassung, welche die Römer
kennzeichnet und in der Technik der Juristen nur ihren höchsten
Gipfelpunkt erreicht, daß sie, indem sie die vorhandenen Ver-
hältnisse rein vom Standpunkt ihrer juristischen Brauchbarkeit
erfaßt, sie als bloßen Apparat für beliebige Zwecke verwendet,
zu jener Gleichgültigkeit gegen das wahre Wesen der Dinge,
jenem formalistischen Nihilismus geführt hat, der schon früh
einen Charakterzug des römischen Volkes bildet. Die Römer
haben die Scheingeschäfte nicht umsonst gehabt
!

Möge das römische Leben selber diese Anklage begründen, und
zwar an der Art, wie es die Familienverhältnisse behandelt hat.

Es ist bezeichnend, daß der Mißbrauch derselben, den ich
hier im Auge habe, schon in eine Zeit hinaufreicht, wo dieselben
im übrigen noch in voller, ungeschwächter Kraft bestanden.
Schon Licinius Stolo war es, der um dem von ihm selbst be-
antragten Gesetz zu entgehen, seine Kinder emancipirte und dafür
vom Volk bestraft ward (B. 2 S. 494). Schon Publius Scipio
klagte als Censor darüber, daß die Adoption benutzt werde,
um sich der Vortheile, die der Besitz der Kinder gewährte, zu ver-
sichern, 342) und Scheinadoptionen und Scheinverkäufe der Kinder
ins Mancipium dienten im sechsten Jahrhundert den Mitgliedern
der latinischen Gemeinden als allbetretener Weg, um das römische
Bürgerrecht zu erlangen. 343) Auch die Eingehung simulirter Ehen,

342) Gell. V. 19.
343) Liv. 41, 8, dazu Adolf Schmidt, Rektoratsprogramm, Frei-
burg 1856. Wer Nachkommenschaft daheim ließ, konnte nach Rom ziehen
und römischer Bürger werden. Wer Kinder besaß, mancipirte sie vor seiner
Uebersiedlung irgend einem Römer und ließ sie daheim; letzterer ließ sie so-

Die Schleichwege des Lebens. §. 57.
dazu gegeben haben, denn ſelbſt in Anwendung auf erlaubte
Zwecke enthält eine ſolche Verwendung der Ehe als bloßer Form
eine Verſündigung gegen ihr wahres Weſen und zugleich das
Signal, ſich ihrer auch zu andern, minder beifallswürdigen
Zwecken zu bedienen, kurz ſie ſchlechthin als juriſtiſches In-
ſtrument zu betrachten. Das iſt überhaupt die dunkle Kehrſeite
jener einſeitig juriſtiſchen Lebensauffaſſung, welche die Römer
kennzeichnet und in der Technik der Juriſten nur ihren höchſten
Gipfelpunkt erreicht, daß ſie, indem ſie die vorhandenen Ver-
hältniſſe rein vom Standpunkt ihrer juriſtiſchen Brauchbarkeit
erfaßt, ſie als bloßen Apparat für beliebige Zwecke verwendet,
zu jener Gleichgültigkeit gegen das wahre Weſen der Dinge,
jenem formaliſtiſchen Nihilismus geführt hat, der ſchon früh
einen Charakterzug des römiſchen Volkes bildet. Die Römer
haben die Scheingeſchäfte nicht umſonſt gehabt
!

Möge das römiſche Leben ſelber dieſe Anklage begründen, und
zwar an der Art, wie es die Familienverhältniſſe behandelt hat.

Es iſt bezeichnend, daß der Mißbrauch derſelben, den ich
hier im Auge habe, ſchon in eine Zeit hinaufreicht, wo dieſelben
im übrigen noch in voller, ungeſchwächter Kraft beſtanden.
Schon Licinius Stolo war es, der um dem von ihm ſelbſt be-
antragten Geſetz zu entgehen, ſeine Kinder emancipirte und dafür
vom Volk beſtraft ward (B. 2 S. 494). Schon Publius Scipio
klagte als Cenſor darüber, daß die Adoption benutzt werde,
um ſich der Vortheile, die der Beſitz der Kinder gewährte, zu ver-
ſichern, 342) und Scheinadoptionen und Scheinverkäufe der Kinder
ins Mancipium dienten im ſechſten Jahrhundert den Mitgliedern
der latiniſchen Gemeinden als allbetretener Weg, um das römiſche
Bürgerrecht zu erlangen. 343) Auch die Eingehung ſimulirter Ehen,

342) Gell. V. 19.
343) Liv. 41, 8, dazu Adolf Schmidt, Rektoratsprogramm, Frei-
burg 1856. Wer Nachkommenſchaft daheim ließ, konnte nach Rom ziehen
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[251/0267] Die Schleichwege des Lebens. §. 57. dazu gegeben haben, denn ſelbſt in Anwendung auf erlaubte Zwecke enthält eine ſolche Verwendung der Ehe als bloßer Form eine Verſündigung gegen ihr wahres Weſen und zugleich das Signal, ſich ihrer auch zu andern, minder beifallswürdigen Zwecken zu bedienen, kurz ſie ſchlechthin als juriſtiſches In- ſtrument zu betrachten. Das iſt überhaupt die dunkle Kehrſeite jener einſeitig juriſtiſchen Lebensauffaſſung, welche die Römer kennzeichnet und in der Technik der Juriſten nur ihren höchſten Gipfelpunkt erreicht, daß ſie, indem ſie die vorhandenen Ver- hältniſſe rein vom Standpunkt ihrer juriſtiſchen Brauchbarkeit erfaßt, ſie als bloßen Apparat für beliebige Zwecke verwendet, zu jener Gleichgültigkeit gegen das wahre Weſen der Dinge, jenem formaliſtiſchen Nihilismus geführt hat, der ſchon früh einen Charakterzug des römiſchen Volkes bildet. Die Römer haben die Scheingeſchäfte nicht umſonſt gehabt! Möge das römiſche Leben ſelber dieſe Anklage begründen, und zwar an der Art, wie es die Familienverhältniſſe behandelt hat. Es iſt bezeichnend, daß der Mißbrauch derſelben, den ich hier im Auge habe, ſchon in eine Zeit hinaufreicht, wo dieſelben im übrigen noch in voller, ungeſchwächter Kraft beſtanden. Schon Licinius Stolo war es, der um dem von ihm ſelbſt be- antragten Geſetz zu entgehen, ſeine Kinder emancipirte und dafür vom Volk beſtraft ward (B. 2 S. 494). Schon Publius Scipio klagte als Cenſor darüber, daß die Adoption benutzt werde, um ſich der Vortheile, die der Beſitz der Kinder gewährte, zu ver- ſichern, 342) und Scheinadoptionen und Scheinverkäufe der Kinder ins Mancipium dienten im ſechſten Jahrhundert den Mitgliedern der latiniſchen Gemeinden als allbetretener Weg, um das römiſche Bürgerrecht zu erlangen. 343) Auch die Eingehung ſimulirter Ehen, 342) Gell. V. 19. 343) Liv. 41, 8, dazu Adolf Schmidt, Rektoratsprogramm, Frei- burg 1856. Wer Nachkommenſchaft daheim ließ, konnte nach Rom ziehen und römiſcher Bürger werden. Wer Kinder beſaß, mancipirte ſie vor ſeiner Ueberſiedlung irgend einem Römer und ließ ſie daheim; letzterer ließ ſie ſo-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/267>, abgerufen am 22.11.2024.