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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
specieller Anwendung auf diesen Fall ein Satz aufbewahrt ist,
der die Formulirung des ganzen Systems enthält. Dieser Satz
lautet: magistratus vitio creatus nihilo secius magistratus.286)
Mit diesem der Auguraldisciplin angehörigen Ausdruck vi-
tium
287) ist das System selbst in einer so prägnanten Weise
charakterisirt, daß wir darnach dasselbe als System der politi-
schen Vitiosität
bezeichnen werden.

Mit der Wahl der Magistrate verhielt es sich nun kurz ge-
sagt folgendermaßen. Alle Erfordernisse, die für dieselbe aufge-
stellt sind, sei es durch Gesetze oder durch Gewohnheitsrecht,
seien sie positiver oder negativer Art, sind in die Form von An-
forderungen
an den die Wahlcomitien leitenden Magistrat
gebracht. Er ist für ihre Beobachtung verantwortlich, und sein
Amtseid und die Aussicht auf die nach Niederlegung seines
Amts ihn treffende Anklage und Strafe bürgen für die Erfül-
lung seiner Pflicht. Aber wagt er es darauf, setzt er sich über
jene Vorschriften hinweg, indem er beim Schluß der Comitien
Jemand als gewählt proklamirt (renuntiatio), dessen Wahl er
als ungültig hätte zurückweisen sollen, so ist der Verkündete,
wenn die Zeit zum Antritt seines Amts gekommen, Magistrat,
und Niemand darf ihm den amtlichen Gehorsam vorenthalten,
denn wenn auch "vitio creatus", so ist er doch "nihilo secius
magistratus".
Nur die höchste Oberaufsichtsbehörde: der Se-
nat kann ihn, sei es aus eigner oder fremder Anregung, nach-

286) Varro de L. L. VI. 30.
287) Unverarbeitetes Quellenmaterial für diesen Begriff bei Brissonius
de voc. ac form. I. c.
205. Der Ausdruck ruft unwillkührlich die Parallele
mit dem vitium possessionis hervor, und wer dieselbe bei der folgenden Dar-
stellung im Text vor Augen behalten will, wird sich überzeugen, daß der Be-
griff in beiden Richtungen ganz derselbe ist -- man könnte in der obigen For-
mel den Ausdruck magistratus mit possessor vertauschen -- nämlich der der
Relativität des Fehlers, ein schlagender Beleg für die wunderbar scharfe
und in die frühste Zeit hinaufreichende Terminologie der Römer. Wie der
possessor injustus zu jedem Dritten steht, so der magistratus vitiosus
zum Volk, wie jener zum justus, so dieser zum Senat.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
ſpecieller Anwendung auf dieſen Fall ein Satz aufbewahrt iſt,
der die Formulirung des ganzen Syſtems enthält. Dieſer Satz
lautet: magistratus vitio creatus nihilo secius magistratus.286)
Mit dieſem der Auguraldisciplin angehörigen Ausdruck vi-
tium
287) iſt das Syſtem ſelbſt in einer ſo prägnanten Weiſe
charakteriſirt, daß wir darnach daſſelbe als Syſtem der politi-
ſchen Vitioſität
bezeichnen werden.

Mit der Wahl der Magiſtrate verhielt es ſich nun kurz ge-
ſagt folgendermaßen. Alle Erforderniſſe, die für dieſelbe aufge-
ſtellt ſind, ſei es durch Geſetze oder durch Gewohnheitsrecht,
ſeien ſie poſitiver oder negativer Art, ſind in die Form von An-
forderungen
an den die Wahlcomitien leitenden Magiſtrat
gebracht. Er iſt für ihre Beobachtung verantwortlich, und ſein
Amtseid und die Ausſicht auf die nach Niederlegung ſeines
Amts ihn treffende Anklage und Strafe bürgen für die Erfül-
lung ſeiner Pflicht. Aber wagt er es darauf, ſetzt er ſich über
jene Vorſchriften hinweg, indem er beim Schluß der Comitien
Jemand als gewählt proklamirt (renuntiatio), deſſen Wahl er
als ungültig hätte zurückweiſen ſollen, ſo iſt der Verkündete,
wenn die Zeit zum Antritt ſeines Amts gekommen, Magiſtrat,
und Niemand darf ihm den amtlichen Gehorſam vorenthalten,
denn wenn auch „vitio creatus“, ſo iſt er doch „nihilo secius
magistratus“.
Nur die höchſte Oberaufſichtsbehörde: der Se-
nat kann ihn, ſei es aus eigner oder fremder Anregung, nach-

286) Varro de L. L. VI. 30.
287) Unverarbeitetes Quellenmaterial für dieſen Begriff bei Brissonius
de voc. ac form. I. c.
205. Der Ausdruck ruft unwillkührlich die Parallele
mit dem vitium possessionis hervor, und wer dieſelbe bei der folgenden Dar-
ſtellung im Text vor Augen behalten will, wird ſich überzeugen, daß der Be-
griff in beiden Richtungen ganz derſelbe iſt — man könnte in der obigen For-
mel den Ausdruck magistratus mit possessor vertauſchen — nämlich der der
Relativität des Fehlers, ein ſchlagender Beleg für die wunderbar ſcharfe
und in die frühſte Zeit hinaufreichende Terminologie der Römer. Wie der
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zum Volk, wie jener zum justus, ſo dieſer zum Senat.
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[218/0234] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. ſpecieller Anwendung auf dieſen Fall ein Satz aufbewahrt iſt, der die Formulirung des ganzen Syſtems enthält. Dieſer Satz lautet: magistratus vitio creatus nihilo secius magistratus. 286) Mit dieſem der Auguraldisciplin angehörigen Ausdruck vi- tium 287) iſt das Syſtem ſelbſt in einer ſo prägnanten Weiſe charakteriſirt, daß wir darnach daſſelbe als Syſtem der politi- ſchen Vitioſität bezeichnen werden. Mit der Wahl der Magiſtrate verhielt es ſich nun kurz ge- ſagt folgendermaßen. Alle Erforderniſſe, die für dieſelbe aufge- ſtellt ſind, ſei es durch Geſetze oder durch Gewohnheitsrecht, ſeien ſie poſitiver oder negativer Art, ſind in die Form von An- forderungen an den die Wahlcomitien leitenden Magiſtrat gebracht. Er iſt für ihre Beobachtung verantwortlich, und ſein Amtseid und die Ausſicht auf die nach Niederlegung ſeines Amts ihn treffende Anklage und Strafe bürgen für die Erfül- lung ſeiner Pflicht. Aber wagt er es darauf, ſetzt er ſich über jene Vorſchriften hinweg, indem er beim Schluß der Comitien Jemand als gewählt proklamirt (renuntiatio), deſſen Wahl er als ungültig hätte zurückweiſen ſollen, ſo iſt der Verkündete, wenn die Zeit zum Antritt ſeines Amts gekommen, Magiſtrat, und Niemand darf ihm den amtlichen Gehorſam vorenthalten, denn wenn auch „vitio creatus“, ſo iſt er doch „nihilo secius magistratus“. Nur die höchſte Oberaufſichtsbehörde: der Se- nat kann ihn, ſei es aus eigner oder fremder Anregung, nach- 286) Varro de L. L. VI. 30. 287) Unverarbeitetes Quellenmaterial für dieſen Begriff bei Brissonius de voc. ac form. I. c. 205. Der Ausdruck ruft unwillkührlich die Parallele mit dem vitium possessionis hervor, und wer dieſelbe bei der folgenden Dar- ſtellung im Text vor Augen behalten will, wird ſich überzeugen, daß der Be- griff in beiden Richtungen ganz derſelbe iſt — man könnte in der obigen For- mel den Ausdruck magistratus mit possessor vertauſchen — nämlich der der Relativität des Fehlers, ein ſchlagender Beleg für die wunderbar ſcharfe und in die frühſte Zeit hinaufreichende Terminologie der Römer. Wie der possessor injustus zu jedem Dritten ſteht, ſo der magistratus vitiosus zum Volk, wie jener zum justus, ſo dieſer zum Senat.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/234>, abgerufen am 06.05.2024.