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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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C. Die abstracte Analyse. Vereinfachung des Thatbestandes. §. 55.
denen man die genaue Kenntniß und Beobachtung des Kalen-
ders nicht zumuthen konnte,283) sondern lediglich für den Ma-
gistrat! 284) Eine Nichtbeachtung derselben begründete also zwar
von seiner Seite eine Pflichtverletzung und zog Strafe für ihn
nach sich, aber auf den Akt erstreckten sich die Wirkungen seiner
Pflichtverletzung ebensowenig als die der Verletzung der Obli-
gation von Seiten eines Verkäufers, der die Sache zwei Mal
verkauft, auf die Tradition -- der Akt war gültig.285)

Die beiden bisher betrachteten Verhältnisse lassen bereits den
Weg, den das ältere Recht zur Lösung des obigen Problems
eingeschlagen hat, mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen, aber zu der
Ueberzeugung, daß wir es hier mit einem vollständig ausgebil-
deten, durchdachten politischen System zu thun haben, gelangen
wir erst, wenn wir noch zwei andere Verhältnisse von ungleich
höherer politischer Tragweite: die Wahl der Magistrate und
den Erlaß der Gesetze zur Vergleichung heranziehen.

Das erste dieser beiden Verhältnisse ist ganz besonders ge-
eignet, jenes System ins hellste Licht zu setzen, theils wegen des
relativ reichen bis in die ältesten Zeiten hinaufreichenden Quel-
lenmaterials, das uns dafür zu Gebote steht, theils weil uns in

283) Darum fand das Erforderniß bei der legis actio per pignoris ca-
pionem
keine Anwendung, indem diese eine Mitwirkung des Prätors überall
nicht erforderte.
284) Alle Stellen, die davon handeln, drücken sich in dieser Weise aus;
z. B. Varro de L. L. VI. 29, 30. VII. 53: Praetoribus licet fari,
Praetorem nefas fari. Ovid. Fasti I. 51: Praetor verba libera habet
.
Auf diesen nicht selten verkannten Punkt (z. B. Puchta: "Tage, an denen
eine legis act. nicht möglich war") habe ich bereits B. 2 S. 695 aufmerk-
sam gemacht, s. jetzt auch O. E. Hartmann Der Ordo Judiciorum. S. 16.
285) Varro l. c. si .. quem manumisit, ille nihilo minus est liber,
sed vitio.
Die Vitiosität hatte hier aber sicherlich nicht die Folge, wie im
öffentlichen Recht (s. u.) d. h. die der Rescission des Akts; das hätte sich mit
dem Grundsatz, daß eine einmal ertheilte Freiheit nicht zurückgenommen wer-
den kann, nicht vertragen, und würde namentlich auch für die Legis Actionen
in keiner Weise gepaßt haben.

C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
denen man die genaue Kenntniß und Beobachtung des Kalen-
ders nicht zumuthen konnte,283) ſondern lediglich für den Ma-
giſtrat! 284) Eine Nichtbeachtung derſelben begründete alſo zwar
von ſeiner Seite eine Pflichtverletzung und zog Strafe für ihn
nach ſich, aber auf den Akt erſtreckten ſich die Wirkungen ſeiner
Pflichtverletzung ebenſowenig als die der Verletzung der Obli-
gation von Seiten eines Verkäufers, der die Sache zwei Mal
verkauft, auf die Tradition — der Akt war gültig.285)

Die beiden bisher betrachteten Verhältniſſe laſſen bereits den
Weg, den das ältere Recht zur Löſung des obigen Problems
eingeſchlagen hat, mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen, aber zu der
Ueberzeugung, daß wir es hier mit einem vollſtändig ausgebil-
deten, durchdachten politiſchen Syſtem zu thun haben, gelangen
wir erſt, wenn wir noch zwei andere Verhältniſſe von ungleich
höherer politiſcher Tragweite: die Wahl der Magiſtrate und
den Erlaß der Geſetze zur Vergleichung heranziehen.

Das erſte dieſer beiden Verhältniſſe iſt ganz beſonders ge-
eignet, jenes Syſtem ins hellſte Licht zu ſetzen, theils wegen des
relativ reichen bis in die älteſten Zeiten hinaufreichenden Quel-
lenmaterials, das uns dafür zu Gebote ſteht, theils weil uns in

283) Darum fand das Erforderniß bei der legis actio per pignoris ca-
pionem
keine Anwendung, indem dieſe eine Mitwirkung des Prätors überall
nicht erforderte.
284) Alle Stellen, die davon handeln, drücken ſich in dieſer Weiſe aus;
z. B. Varro de L. L. VI. 29, 30. VII. 53: Praetoribus licet fari,
Praetorem nefas fari. Ovid. Fasti I. 51: Praetor verba libera habet
.
Auf dieſen nicht ſelten verkannten Punkt (z. B. Puchta: „Tage, an denen
eine legis act. nicht möglich war“) habe ich bereits B. 2 S. 695 aufmerk-
ſam gemacht, ſ. jetzt auch O. E. Hartmann Der Ordo Judiciorum. S. 16.
285) Varro l. c. si .. quem manumisit, ille nihilo minus est liber,
sed vitio.
Die Vitioſität hatte hier aber ſicherlich nicht die Folge, wie im
öffentlichen Recht (ſ. u.) d. h. die der Reſciſſion des Akts; das hätte ſich mit
dem Grundſatz, daß eine einmal ertheilte Freiheit nicht zurückgenommen wer-
den kann, nicht vertragen, und würde namentlich auch für die Legis Actionen
in keiner Weiſe gepaßt haben.
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[217/0233] C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55. denen man die genaue Kenntniß und Beobachtung des Kalen- ders nicht zumuthen konnte, 283) ſondern lediglich für den Ma- giſtrat! 284) Eine Nichtbeachtung derſelben begründete alſo zwar von ſeiner Seite eine Pflichtverletzung und zog Strafe für ihn nach ſich, aber auf den Akt erſtreckten ſich die Wirkungen ſeiner Pflichtverletzung ebenſowenig als die der Verletzung der Obli- gation von Seiten eines Verkäufers, der die Sache zwei Mal verkauft, auf die Tradition — der Akt war gültig. 285) Die beiden bisher betrachteten Verhältniſſe laſſen bereits den Weg, den das ältere Recht zur Löſung des obigen Problems eingeſchlagen hat, mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen, aber zu der Ueberzeugung, daß wir es hier mit einem vollſtändig ausgebil- deten, durchdachten politiſchen Syſtem zu thun haben, gelangen wir erſt, wenn wir noch zwei andere Verhältniſſe von ungleich höherer politiſcher Tragweite: die Wahl der Magiſtrate und den Erlaß der Geſetze zur Vergleichung heranziehen. Das erſte dieſer beiden Verhältniſſe iſt ganz beſonders ge- eignet, jenes Syſtem ins hellſte Licht zu ſetzen, theils wegen des relativ reichen bis in die älteſten Zeiten hinaufreichenden Quel- lenmaterials, das uns dafür zu Gebote ſteht, theils weil uns in 283) Darum fand das Erforderniß bei der legis actio per pignoris ca- pionem keine Anwendung, indem dieſe eine Mitwirkung des Prätors überall nicht erforderte. 284) Alle Stellen, die davon handeln, drücken ſich in dieſer Weiſe aus; z. B. Varro de L. L. VI. 29, 30. VII. 53: Praetoribus licet fari, Praetorem nefas fari. Ovid. Fasti I. 51: Praetor verba libera habet. Auf dieſen nicht ſelten verkannten Punkt (z. B. Puchta: „Tage, an denen eine legis act. nicht möglich war“) habe ich bereits B. 2 S. 695 aufmerk- ſam gemacht, ſ. jetzt auch O. E. Hartmann Der Ordo Judiciorum. S. 16. 285) Varro l. c. si .. quem manumisit, ille nihilo minus est liber, sed vitio. Die Vitioſität hatte hier aber ſicherlich nicht die Folge, wie im öffentlichen Recht (ſ. u.) d. h. die der Reſciſſion des Akts; das hätte ſich mit dem Grundſatz, daß eine einmal ertheilte Freiheit nicht zurückgenommen wer- den kann, nicht vertragen, und würde namentlich auch für die Legis Actionen in keiner Weiſe gepaßt haben.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/233>, abgerufen am 06.05.2024.