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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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C. Die abstracte Analyse. Vereinfachung des Thatbestandes. §. 55.
man als System der absoluten politischen Nichtigkeit
bezeichnen könnte, einen gewissen doctrinären Schein hat, na-
mentlich der zweite Satz, denn wie kann sich -- möchte man sa-
gen -- Leben entwickeln aus einem todten Keim? Anderer-
seits aber liegt es auf der Hand, daß sie mit dem Interesse der
öffentlichen Ordnung und Sicherheit völlig unverträglich ist,
und es bedarf nicht der Bemerkung, daß die Römer am wenig-
sten das Volk waren, um die realen Zwecke und Anforderungen
des Lebens dem Streben nach theoretischer Correctheit zu opfern.
Und nicht einmal das letztere Lob läßt sich jenem System nach-
rühmen; der Schein logischer Nothwendigkeit, mit dem es sich
umgibt, ist leerer Schein, wie denn überhaupt alles praktisch
Verkehrte und Unbrauchbare nie das theoretisch Richtige sein
kann.

Der Weg, den das altrömische Staatsrecht eingeschlagen
hat, ist in der That ein ganz anderer -- ein eben so einfacher,
wie logisch untadelhafter und praktisch richtiger.

Das geistliche Recht, das Fas, stellte bekanntlich für die Vor-
nahme aller Akte des öffentlichen Lebens eine Menge von Erfor-
dernissen auf: sie sollten nur vollzogen werden an gewissen Ta-
gen, nur, wenn die Auspicien günstig ausgefallen, wenn keine
drohenden Himmelserscheinungen vorgekommen u. s. w. Wer
würde nicht erwarten, daß wenn irgendwo, so gerade bei diesen
mit der Weihe göttlicher Sanction bekleideten Vorschriften die
Nichtbeachtung Nichtigkeit nach sich gezogen hätte? Aber auch
das göttliche Gebot fügte sich in Rom den Rücksichten der prakti-
schen Zweckmäßigkeit! Ein Augur oder im Felde der Pullarius
hatte sich bei Einholung der Zeichen ein Versehen zu Schulden
kommen lassen oder gar absichtlich, um den Akt nicht zu verhin-
dern, die Wahrheit entstellt, der Beamte, der ihn zugezogen,
wußte dies, nahm aber gleichwohl den beabsichtigten Akt vor.
War derselbe nichtig? Nein! Die Beobachtung der Auspicien
ist Sache des Augurn, seine Verpflichtung ist es dabei nach
den Gesetzen seiner Kunst zu verfahren, handelt er denselben

C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
man als Syſtem der abſoluten politiſchen Nichtigkeit
bezeichnen könnte, einen gewiſſen doctrinären Schein hat, na-
mentlich der zweite Satz, denn wie kann ſich — möchte man ſa-
gen — Leben entwickeln aus einem todten Keim? Anderer-
ſeits aber liegt es auf der Hand, daß ſie mit dem Intereſſe der
öffentlichen Ordnung und Sicherheit völlig unverträglich iſt,
und es bedarf nicht der Bemerkung, daß die Römer am wenig-
ſten das Volk waren, um die realen Zwecke und Anforderungen
des Lebens dem Streben nach theoretiſcher Correctheit zu opfern.
Und nicht einmal das letztere Lob läßt ſich jenem Syſtem nach-
rühmen; der Schein logiſcher Nothwendigkeit, mit dem es ſich
umgibt, iſt leerer Schein, wie denn überhaupt alles praktiſch
Verkehrte und Unbrauchbare nie das theoretiſch Richtige ſein
kann.

Der Weg, den das altrömiſche Staatsrecht eingeſchlagen
hat, iſt in der That ein ganz anderer — ein eben ſo einfacher,
wie logiſch untadelhafter und praktiſch richtiger.

Das geiſtliche Recht, das Fas, ſtellte bekanntlich für die Vor-
nahme aller Akte des öffentlichen Lebens eine Menge von Erfor-
derniſſen auf: ſie ſollten nur vollzogen werden an gewiſſen Ta-
gen, nur, wenn die Auſpicien günſtig ausgefallen, wenn keine
drohenden Himmelserſcheinungen vorgekommen u. ſ. w. Wer
würde nicht erwarten, daß wenn irgendwo, ſo gerade bei dieſen
mit der Weihe göttlicher Sanction bekleideten Vorſchriften die
Nichtbeachtung Nichtigkeit nach ſich gezogen hätte? Aber auch
das göttliche Gebot fügte ſich in Rom den Rückſichten der prakti-
ſchen Zweckmäßigkeit! Ein Augur oder im Felde der Pullarius
hatte ſich bei Einholung der Zeichen ein Verſehen zu Schulden
kommen laſſen oder gar abſichtlich, um den Akt nicht zu verhin-
dern, die Wahrheit entſtellt, der Beamte, der ihn zugezogen,
wußte dies, nahm aber gleichwohl den beabſichtigten Akt vor.
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iſt Sache des Augurn, ſeine Verpflichtung iſt es dabei nach
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[215/0231] C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55. man als Syſtem der abſoluten politiſchen Nichtigkeit bezeichnen könnte, einen gewiſſen doctrinären Schein hat, na- mentlich der zweite Satz, denn wie kann ſich — möchte man ſa- gen — Leben entwickeln aus einem todten Keim? Anderer- ſeits aber liegt es auf der Hand, daß ſie mit dem Intereſſe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit völlig unverträglich iſt, und es bedarf nicht der Bemerkung, daß die Römer am wenig- ſten das Volk waren, um die realen Zwecke und Anforderungen des Lebens dem Streben nach theoretiſcher Correctheit zu opfern. Und nicht einmal das letztere Lob läßt ſich jenem Syſtem nach- rühmen; der Schein logiſcher Nothwendigkeit, mit dem es ſich umgibt, iſt leerer Schein, wie denn überhaupt alles praktiſch Verkehrte und Unbrauchbare nie das theoretiſch Richtige ſein kann. Der Weg, den das altrömiſche Staatsrecht eingeſchlagen hat, iſt in der That ein ganz anderer — ein eben ſo einfacher, wie logiſch untadelhafter und praktiſch richtiger. Das geiſtliche Recht, das Fas, ſtellte bekanntlich für die Vor- nahme aller Akte des öffentlichen Lebens eine Menge von Erfor- derniſſen auf: ſie ſollten nur vollzogen werden an gewiſſen Ta- gen, nur, wenn die Auſpicien günſtig ausgefallen, wenn keine drohenden Himmelserſcheinungen vorgekommen u. ſ. w. Wer würde nicht erwarten, daß wenn irgendwo, ſo gerade bei dieſen mit der Weihe göttlicher Sanction bekleideten Vorſchriften die Nichtbeachtung Nichtigkeit nach ſich gezogen hätte? Aber auch das göttliche Gebot fügte ſich in Rom den Rückſichten der prakti- ſchen Zweckmäßigkeit! Ein Augur oder im Felde der Pullarius hatte ſich bei Einholung der Zeichen ein Verſehen zu Schulden kommen laſſen oder gar abſichtlich, um den Akt nicht zu verhin- dern, die Wahrheit entſtellt, der Beamte, der ihn zugezogen, wußte dies, nahm aber gleichwohl den beabſichtigten Akt vor. War derſelbe nichtig? Nein! Die Beobachtung der Auſpicien iſt Sache des Augurn, ſeine Verpflichtung iſt es dabei nach den Geſetzen ſeiner Kunſt zu verfahren, handelt er denſelben

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/231>, abgerufen am 24.11.2024.