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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Jurist. Kunst -- primitiver Typus derselben. §. 48.
Die Analyse, die in unserem heutigen Rechte lediglich den Cha-
rakter einer dem Richter obliegenden Operation hat, ist im
ältern Rechte durch einen eignen äußern analytischen Appa-
rat
garantirt. Die juristische Oekonomie oder die Kunst durch
geschickte Verwendung des vorhandenen Materials den Bedürf-
nissen des Lebens gerecht zu werden bethätigt jenen Charakter
der Aeußerlichkeit vorzugsweise in den Scheingeschäften.

Das Gesetz, das ich oben im Sinne hatte, lautet folgender-
maßen: Der Weg zur Freiheit in der Kunst geht durch
die Unfreiheit
. Der unerläßliche Anfang der Kunst sowohl
für die Individuen wie für die Völker ist die strenge, sklavische
Anwendung der Regel, nur Der wird Herr der Regel, der vor-
her ihr Sklav gewesen. Was dem Meister als lebendiges Ge-
setz seiner gesammten künstlerischen Anschauung sich innerlich
assimilirt hat, das steht dem Lehrling noch als mechanisches
Gebot äußerlich gegenüber, dem er sich blindlings und ohne
eigene Prüfung zu unterwerfen hat. Das Verhältniß innerer
Unfreiheit prägt sich in allen seinen Leistungen aus und drückt
denselben einen ganz bestimmten Typus auf, der überall die
Anfangsstufen der Kunst kennzeichnet, den der Tyrannei der
Regel: der Steifheit, Trockenheit, Pedanterie, aber zugleich
strenger Regelmäßigkeit und Ordnung.

Das Gesagte trifft auch für die juristische Kunst zu, auch sie
hat, um zur geistigen Freiheit zu gelangen, das Stadium der
Unfreiheit zurücklegen müssen und sie trägt in demselben ganz
jenen Typus der Anfangsstufe der Kunst an sich, den wir so
eben geschildert haben, auf der einen Seite: musterhafte Ord-
nung und Einfachheit, mathematische Regelmäßigkeit und Ge-
nauigkeit, unerbittliche Consequenz; auf der andern die Kehr-
seite dieser Vorzüge: Starrheit, Umständlichkeit, Schwerfällig-
keit, Pedanterie, ein gewisses steifes, schulmeisterliches Wesen.

Um einen gegebenen Punkt zu erreichen, geht die ältere Ju-
risprudenz, wenn irgend ein Stein im Wege liegt, sicherlich nicht
geradeaus, sondern sie sucht auf einem Umwege, in einem Zick-

Juriſt. Kunſt — primitiver Typus derſelben. §. 48.
Die Analyſe, die in unſerem heutigen Rechte lediglich den Cha-
rakter einer dem Richter obliegenden Operation hat, iſt im
ältern Rechte durch einen eignen äußern analytiſchen Appa-
rat
garantirt. Die juriſtiſche Oekonomie oder die Kunſt durch
geſchickte Verwendung des vorhandenen Materials den Bedürf-
niſſen des Lebens gerecht zu werden bethätigt jenen Charakter
der Aeußerlichkeit vorzugsweiſe in den Scheingeſchäften.

Das Geſetz, das ich oben im Sinne hatte, lautet folgender-
maßen: Der Weg zur Freiheit in der Kunſt geht durch
die Unfreiheit
. Der unerläßliche Anfang der Kunſt ſowohl
für die Individuen wie für die Völker iſt die ſtrenge, ſklaviſche
Anwendung der Regel, nur Der wird Herr der Regel, der vor-
her ihr Sklav geweſen. Was dem Meiſter als lebendiges Ge-
ſetz ſeiner geſammten künſtleriſchen Anſchauung ſich innerlich
aſſimilirt hat, das ſteht dem Lehrling noch als mechaniſches
Gebot äußerlich gegenüber, dem er ſich blindlings und ohne
eigene Prüfung zu unterwerfen hat. Das Verhältniß innerer
Unfreiheit prägt ſich in allen ſeinen Leiſtungen aus und drückt
denſelben einen ganz beſtimmten Typus auf, der überall die
Anfangsſtufen der Kunſt kennzeichnet, den der Tyrannei der
Regel: der Steifheit, Trockenheit, Pedanterie, aber zugleich
ſtrenger Regelmäßigkeit und Ordnung.

Das Geſagte trifft auch für die juriſtiſche Kunſt zu, auch ſie
hat, um zur geiſtigen Freiheit zu gelangen, das Stadium der
Unfreiheit zurücklegen müſſen und ſie trägt in demſelben ganz
jenen Typus der Anfangsſtufe der Kunſt an ſich, den wir ſo
eben geſchildert haben, auf der einen Seite: muſterhafte Ord-
nung und Einfachheit, mathematiſche Regelmäßigkeit und Ge-
nauigkeit, unerbittliche Conſequenz; auf der andern die Kehr-
ſeite dieſer Vorzüge: Starrheit, Umſtändlichkeit, Schwerfällig-
keit, Pedanterie, ein gewiſſes ſteifes, ſchulmeiſterliches Weſen.

Um einen gegebenen Punkt zu erreichen, geht die ältere Ju-
risprudenz, wenn irgend ein Stein im Wege liegt, ſicherlich nicht
geradeaus, ſondern ſie ſucht auf einem Umwege, in einem Zick-

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[9/0025] Juriſt. Kunſt — primitiver Typus derſelben. §. 48. Die Analyſe, die in unſerem heutigen Rechte lediglich den Cha- rakter einer dem Richter obliegenden Operation hat, iſt im ältern Rechte durch einen eignen äußern analytiſchen Appa- rat garantirt. Die juriſtiſche Oekonomie oder die Kunſt durch geſchickte Verwendung des vorhandenen Materials den Bedürf- niſſen des Lebens gerecht zu werden bethätigt jenen Charakter der Aeußerlichkeit vorzugsweiſe in den Scheingeſchäften. Das Geſetz, das ich oben im Sinne hatte, lautet folgender- maßen: Der Weg zur Freiheit in der Kunſt geht durch die Unfreiheit. Der unerläßliche Anfang der Kunſt ſowohl für die Individuen wie für die Völker iſt die ſtrenge, ſklaviſche Anwendung der Regel, nur Der wird Herr der Regel, der vor- her ihr Sklav geweſen. Was dem Meiſter als lebendiges Ge- ſetz ſeiner geſammten künſtleriſchen Anſchauung ſich innerlich aſſimilirt hat, das ſteht dem Lehrling noch als mechaniſches Gebot äußerlich gegenüber, dem er ſich blindlings und ohne eigene Prüfung zu unterwerfen hat. Das Verhältniß innerer Unfreiheit prägt ſich in allen ſeinen Leiſtungen aus und drückt denſelben einen ganz beſtimmten Typus auf, der überall die Anfangsſtufen der Kunſt kennzeichnet, den der Tyrannei der Regel: der Steifheit, Trockenheit, Pedanterie, aber zugleich ſtrenger Regelmäßigkeit und Ordnung. Das Geſagte trifft auch für die juriſtiſche Kunſt zu, auch ſie hat, um zur geiſtigen Freiheit zu gelangen, das Stadium der Unfreiheit zurücklegen müſſen und ſie trägt in demſelben ganz jenen Typus der Anfangsſtufe der Kunſt an ſich, den wir ſo eben geſchildert haben, auf der einen Seite: muſterhafte Ord- nung und Einfachheit, mathematiſche Regelmäßigkeit und Ge- nauigkeit, unerbittliche Conſequenz; auf der andern die Kehr- ſeite dieſer Vorzüge: Starrheit, Umſtändlichkeit, Schwerfällig- keit, Pedanterie, ein gewiſſes ſteifes, ſchulmeiſterliches Weſen. Um einen gegebenen Punkt zu erreichen, geht die ältere Ju- risprudenz, wenn irgend ein Stein im Wege liegt, ſicherlich nicht geradeaus, ſondern ſie ſucht auf einem Umwege, in einem Zick-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/25>, abgerufen am 29.11.2024.