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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
des Seins und Lebens derselben stets gegenwärtig zu halten,
gern juristische Wesen nennen, wenn der Ausdruck nicht etwas
gesucht erschiene. Ich werde daher lieber den Ausdruck juri-
stische
oder Rechts-Körper wählen (im Gegensatz zur bloßen
Rechtssubstanz oder zum Rechtsstoff).

Man könnte von vornherein leicht geneigt sein, die Bedeu-
tung dieser Anschauungsweise sehr gering anzuschlagen. Was
soll es für einen Unterschied machen, wird Mancher fragen, ob
man statt "Rechtssätze über das Eigenthum": "Eigenthumsinsti-
tut" oder "Eigenthum" sagt? Gewiß! Wenn es beim bloßen
Ausdruck oder bei einem unthätigen Besitz jener Vorstellung sein
Bewenden behielte, dann allerdings würde dieselbe keinen beson-
dern Werth haben. Sie enthält nur einen Keim, aber einen
Keim, der, wenn er erschlossen wird, eine totale Umgestaltung
des Rechts nach sich zieht. Sache der Jurisprudenz ist es, die-
sen Keim zu erschließen und zur vollen Entfaltung zu bringen,
also den gesammten Rechtsstoff im Sinne jener Auffassungsweise
zu gestalten, den Gesichtspunkt eines individuellen Seins und
Lebens in allen seinen Consequenzen durchzuführen.

Wie kann die Anlegung und Durchführung eines bloßen
Gesichtspunkts solche Wunder thun? Dieser Zweifel wäre durch-
aus berechtigt, wenn der Gesichtspunkt bloß eine andere Art der
Betrachtung des Gegenstandes enthielte, ihn uns in einer ande-
ren Beleuchtung, in einem bessern Licht zeigte. Allein er hat
eine ungleich höhere Kraft, die ich vielleicht am kürzesten dadurch
bezeichne, daß ich sie mit der der Wärme vergleiche, die Verän-
derung aber, die dadurch mit dem Körper selbst vor sich geht,
als Erhebung desselben in einen höhern Aggregat-
zustand
charakterisire. Die feste, starre Masse, die in dieser
Form unserer Kunst die engsten Gränzen setzt, wird, so zu sagen,
in Fluß und dadurch in einen Zustand versetzt, in dem sie willig
künstlerische Form und Gestaltung annimmt, alles, was in ihr
ist, kömmt zum Vorschein, die gebundenen Kräfte und Eigen-
schaften werden frei.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
des Seins und Lebens derſelben ſtets gegenwärtig zu halten,
gern juriſtiſche Weſen nennen, wenn der Ausdruck nicht etwas
geſucht erſchiene. Ich werde daher lieber den Ausdruck juri-
ſtiſche
oder Rechts-Körper wählen (im Gegenſatz zur bloßen
Rechtsſubſtanz oder zum Rechtsſtoff).

Man könnte von vornherein leicht geneigt ſein, die Bedeu-
tung dieſer Anſchauungsweiſe ſehr gering anzuſchlagen. Was
ſoll es für einen Unterſchied machen, wird Mancher fragen, ob
man ſtatt „Rechtsſätze über das Eigenthum“: „Eigenthumsinſti-
tut“ oder „Eigenthum“ ſagt? Gewiß! Wenn es beim bloßen
Ausdruck oder bei einem unthätigen Beſitz jener Vorſtellung ſein
Bewenden behielte, dann allerdings würde dieſelbe keinen beſon-
dern Werth haben. Sie enthält nur einen Keim, aber einen
Keim, der, wenn er erſchloſſen wird, eine totale Umgeſtaltung
des Rechts nach ſich zieht. Sache der Jurisprudenz iſt es, die-
ſen Keim zu erſchließen und zur vollen Entfaltung zu bringen,
alſo den geſammten Rechtsſtoff im Sinne jener Auffaſſungsweiſe
zu geſtalten, den Geſichtspunkt eines individuellen Seins und
Lebens in allen ſeinen Conſequenzen durchzuführen.

Wie kann die Anlegung und Durchführung eines bloßen
Geſichtspunkts ſolche Wunder thun? Dieſer Zweifel wäre durch-
aus berechtigt, wenn der Geſichtspunkt bloß eine andere Art der
Betrachtung des Gegenſtandes enthielte, ihn uns in einer ande-
ren Beleuchtung, in einem beſſern Licht zeigte. Allein er hat
eine ungleich höhere Kraft, die ich vielleicht am kürzeſten dadurch
bezeichne, daß ich ſie mit der der Wärme vergleiche, die Verän-
derung aber, die dadurch mit dem Körper ſelbſt vor ſich geht,
als Erhebung deſſelben in einen höhern Aggregat-
zuſtand
charakteriſire. Die feſte, ſtarre Maſſe, die in dieſer
Form unſerer Kunſt die engſten Gränzen ſetzt, wird, ſo zu ſagen,
in Fluß und dadurch in einen Zuſtand verſetzt, in dem ſie willig
künſtleriſche Form und Geſtaltung annimmt, alles, was in ihr
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[388/0094] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. des Seins und Lebens derſelben ſtets gegenwärtig zu halten, gern juriſtiſche Weſen nennen, wenn der Ausdruck nicht etwas geſucht erſchiene. Ich werde daher lieber den Ausdruck juri- ſtiſche oder Rechts-Körper wählen (im Gegenſatz zur bloßen Rechtsſubſtanz oder zum Rechtsſtoff). Man könnte von vornherein leicht geneigt ſein, die Bedeu- tung dieſer Anſchauungsweiſe ſehr gering anzuſchlagen. Was ſoll es für einen Unterſchied machen, wird Mancher fragen, ob man ſtatt „Rechtsſätze über das Eigenthum“: „Eigenthumsinſti- tut“ oder „Eigenthum“ ſagt? Gewiß! Wenn es beim bloßen Ausdruck oder bei einem unthätigen Beſitz jener Vorſtellung ſein Bewenden behielte, dann allerdings würde dieſelbe keinen beſon- dern Werth haben. Sie enthält nur einen Keim, aber einen Keim, der, wenn er erſchloſſen wird, eine totale Umgeſtaltung des Rechts nach ſich zieht. Sache der Jurisprudenz iſt es, die- ſen Keim zu erſchließen und zur vollen Entfaltung zu bringen, alſo den geſammten Rechtsſtoff im Sinne jener Auffaſſungsweiſe zu geſtalten, den Geſichtspunkt eines individuellen Seins und Lebens in allen ſeinen Conſequenzen durchzuführen. Wie kann die Anlegung und Durchführung eines bloßen Geſichtspunkts ſolche Wunder thun? Dieſer Zweifel wäre durch- aus berechtigt, wenn der Geſichtspunkt bloß eine andere Art der Betrachtung des Gegenſtandes enthielte, ihn uns in einer ande- ren Beleuchtung, in einem beſſern Licht zeigte. Allein er hat eine ungleich höhere Kraft, die ich vielleicht am kürzeſten dadurch bezeichne, daß ich ſie mit der der Wärme vergleiche, die Verän- derung aber, die dadurch mit dem Körper ſelbſt vor ſich geht, als Erhebung deſſelben in einen höhern Aggregat- zuſtand charakteriſire. Die feſte, ſtarre Maſſe, die in dieſer Form unſerer Kunſt die engſten Gränzen ſetzt, wird, ſo zu ſagen, in Fluß und dadurch in einen Zuſtand verſetzt, in dem ſie willig künſtleriſche Form und Geſtaltung annimmt, alles, was in ihr iſt, kömmt zum Vorſchein, die gebundenen Kräfte und Eigen- ſchaften werden frei.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/94>, abgerufen am 28.11.2024.