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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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II. Die Aufgabe derselben. §. 38.
wo sie völlig freie Hand hat d. h. wo sie selbst erst die Rechts-
sätze zu finden hat, letzteren selbst von vornherein den erforder-
lichen praktikabeln Zuschnitt geben, so ist dies doch da nicht
möglich, wo sie positive Rechtssätze vorfindet, denen die Prakti-
kabilität abgeht. Was soll die Wissenschaft machen, wenn z. B.
das Gesetz die höchst unpraktische Bestimmung enthält, daß bei
einem Erbfall die Erbschaft nach dem Ursprung der Güter in
der Weise getheilt werden soll, daß die von Seiten des Vaters
und väterlichen Verwandten ererbten Stücke an die väterlichen,
die von Seiten der Mutter und mütterlichen Verwandten ererb-
ten an die mütterlichen Verwandten fallen sollen? Die Wissen-
schaft d. h. die bloße Deduction ist derartigen Bestimmungen
gegenüber machtlos; hier kann nur die real gestaltende Macht
des Lebens, die Praxis, das Gewohnheitsrecht helfen.

Die Praktikabilität ist demnach ein technischer Maßstab, mit
dem wir das positive Recht selbst, nicht bloß die juristische Bear-
beitung desselben zu messen haben, eine Technik, die bis zu
einem gewissen Grade schon von Anfang an im Stoff stecken
muß, wenigstens durch die Jurisprudenz allein nicht in die
Sache hineingebracht werden kann. In dieser Beziehung kömmt
es also im hohen Grade auf den praktischen Takt an, der bei
der Bildung des Rechts, möge dieselbe durch Gesetz oder Ge-
wohnheitsrecht erfolgen, thätig war, und ich müßte mich sehr
täuschen, wenn nicht gerade in dieser Hinsicht die ungebildeten
Rechte den gebildeten überlegen wären. Das ältere römische
Recht wenigstens übertrifft das neuere in dieser Beziehung um
eben so viel, als letzteres das heutige. Worauf beruht dies?
Theils auf der Verschiedenheit der innern Durchbildung und
des äußern Umfanges des Rechts, theils auf der Differenz rück-
sichtlich der Art und Weise, mit der in dem einen und andern
Recht die Form und die Formeln gehandhabt werden. Je sinn-
licher das Recht d. h. je äußerlicher seine Formen, je massiver
die Begriffe, je geringer ferner die Zahl derselben, und je weni-
ger sie bis zu ihren äußersten Spitzen, in denen sie sich berühren

Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 23

II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
wo ſie völlig freie Hand hat d. h. wo ſie ſelbſt erſt die Rechts-
ſätze zu finden hat, letzteren ſelbſt von vornherein den erforder-
lichen praktikabeln Zuſchnitt geben, ſo iſt dies doch da nicht
möglich, wo ſie poſitive Rechtsſätze vorfindet, denen die Prakti-
kabilität abgeht. Was ſoll die Wiſſenſchaft machen, wenn z. B.
das Geſetz die höchſt unpraktiſche Beſtimmung enthält, daß bei
einem Erbfall die Erbſchaft nach dem Urſprung der Güter in
der Weiſe getheilt werden ſoll, daß die von Seiten des Vaters
und väterlichen Verwandten ererbten Stücke an die väterlichen,
die von Seiten der Mutter und mütterlichen Verwandten ererb-
ten an die mütterlichen Verwandten fallen ſollen? Die Wiſſen-
ſchaft d. h. die bloße Deduction iſt derartigen Beſtimmungen
gegenüber machtlos; hier kann nur die real geſtaltende Macht
des Lebens, die Praxis, das Gewohnheitsrecht helfen.

Die Praktikabilität iſt demnach ein techniſcher Maßſtab, mit
dem wir das poſitive Recht ſelbſt, nicht bloß die juriſtiſche Bear-
beitung deſſelben zu meſſen haben, eine Technik, die bis zu
einem gewiſſen Grade ſchon von Anfang an im Stoff ſtecken
muß, wenigſtens durch die Jurisprudenz allein nicht in die
Sache hineingebracht werden kann. In dieſer Beziehung kömmt
es alſo im hohen Grade auf den praktiſchen Takt an, der bei
der Bildung des Rechts, möge dieſelbe durch Geſetz oder Ge-
wohnheitsrecht erfolgen, thätig war, und ich müßte mich ſehr
täuſchen, wenn nicht gerade in dieſer Hinſicht die ungebildeten
Rechte den gebildeten überlegen wären. Das ältere römiſche
Recht wenigſtens übertrifft das neuere in dieſer Beziehung um
eben ſo viel, als letzteres das heutige. Worauf beruht dies?
Theils auf der Verſchiedenheit der innern Durchbildung und
des äußern Umfanges des Rechts, theils auf der Differenz rück-
ſichtlich der Art und Weiſe, mit der in dem einen und andern
Recht die Form und die Formeln gehandhabt werden. Je ſinn-
licher das Recht d. h. je äußerlicher ſeine Formen, je maſſiver
die Begriffe, je geringer ferner die Zahl derſelben, und je weni-
ger ſie bis zu ihren äußerſten Spitzen, in denen ſie ſich berühren

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 23
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[353/0059] II. Die Aufgabe derſelben. §. 38. wo ſie völlig freie Hand hat d. h. wo ſie ſelbſt erſt die Rechts- ſätze zu finden hat, letzteren ſelbſt von vornherein den erforder- lichen praktikabeln Zuſchnitt geben, ſo iſt dies doch da nicht möglich, wo ſie poſitive Rechtsſätze vorfindet, denen die Prakti- kabilität abgeht. Was ſoll die Wiſſenſchaft machen, wenn z. B. das Geſetz die höchſt unpraktiſche Beſtimmung enthält, daß bei einem Erbfall die Erbſchaft nach dem Urſprung der Güter in der Weiſe getheilt werden ſoll, daß die von Seiten des Vaters und väterlichen Verwandten ererbten Stücke an die väterlichen, die von Seiten der Mutter und mütterlichen Verwandten ererb- ten an die mütterlichen Verwandten fallen ſollen? Die Wiſſen- ſchaft d. h. die bloße Deduction iſt derartigen Beſtimmungen gegenüber machtlos; hier kann nur die real geſtaltende Macht des Lebens, die Praxis, das Gewohnheitsrecht helfen. Die Praktikabilität iſt demnach ein techniſcher Maßſtab, mit dem wir das poſitive Recht ſelbſt, nicht bloß die juriſtiſche Bear- beitung deſſelben zu meſſen haben, eine Technik, die bis zu einem gewiſſen Grade ſchon von Anfang an im Stoff ſtecken muß, wenigſtens durch die Jurisprudenz allein nicht in die Sache hineingebracht werden kann. In dieſer Beziehung kömmt es alſo im hohen Grade auf den praktiſchen Takt an, der bei der Bildung des Rechts, möge dieſelbe durch Geſetz oder Ge- wohnheitsrecht erfolgen, thätig war, und ich müßte mich ſehr täuſchen, wenn nicht gerade in dieſer Hinſicht die ungebildeten Rechte den gebildeten überlegen wären. Das ältere römiſche Recht wenigſtens übertrifft das neuere in dieſer Beziehung um eben ſo viel, als letzteres das heutige. Worauf beruht dies? Theils auf der Verſchiedenheit der innern Durchbildung und des äußern Umfanges des Rechts, theils auf der Differenz rück- ſichtlich der Art und Weiſe, mit der in dem einen und andern Recht die Form und die Formeln gehandhabt werden. Je ſinn- licher das Recht d. h. je äußerlicher ſeine Formen, je maſſiver die Begriffe, je geringer ferner die Zahl derſelben, und je weni- ger ſie bis zu ihren äußerſten Spitzen, in denen ſie ſich berühren Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 23

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/59>, abgerufen am 22.11.2024.