Die Verjährung, insofern sie durch den Gesichtspunkt der Nachlässigkeit des Berechtigten gerechtfertigt werden soll, würde nur da Platz greifen, wo und soweit eine solche Nachlässigkeit sich im einzelnen Fall nachweisen ließe. Sie würde also zu be- ginnen haben nicht mit dem Moment des objectiven Ereignisses, sondern mit dem des subjectiven Wissens dieses Umstandes, und ebenso würde sie nur so lange laufen, als subjectiv die Möglich- keit einer Ausübung oder Geltendmachung des Rechts vorhan- den war. Ein solcher Zuschnitt der Verjährung, also in der Sprache des römischen Rechts das tempus utile, wäre abstract genommen das allein Richtige, und die entgegenstehende Be- handlungsweise, das tempus continuum (S. 109) das Ver- kehrte. Praktisch aber steht die Sache gerade umgekehrt, und darin hat es seinen Grund, daß das neueste Recht die Idee des tempus utile, obgleich sie die neuere und freiere war, nicht wei- ter ausgebildet, sondern sie im Gegentheil wesentlich beschränkt (restitutio in integrum) und für fast alle wichtigeren Verhält- nisse das tempus continuum in verbesserter Gestalt (d. h. mit verlängerten Zeitfristen) beibehalten oder eingeführt hat (Klag- verjährung).
Bei der Berechnung der Zeitfristen müßte man eigentlich von der Minute und Sekunde des Anfangspunktes bis zu der ent- sprechenden des Schlußtages zählen (computatio naturalis), al- lein eine solche Genauigkeit wäre namentlich bei größern Fristen geradezu sinnlos. Weniger genau ist besser; das Recht rechnet bloß nach Tagen, auf Minuten und Stunden kömmt es nicht an (computatio civilis).
stimmung der Pubertät. Die Sabinianer vertheidigten in dieser Beziehung die abstract richtige, aber praktisch unbrauchbare einer individuellen Bestim- mung der Reife, die Proculejaner die praktischere Ansicht des Eintritts der Pubertät mit einem bestimmten Alter (Gaj. I, 109), und letztere Ansicht ist von Justinian mit Recht gebilligt.
II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Die Verjährung, inſofern ſie durch den Geſichtspunkt der Nachläſſigkeit des Berechtigten gerechtfertigt werden ſoll, würde nur da Platz greifen, wo und ſoweit eine ſolche Nachläſſigkeit ſich im einzelnen Fall nachweiſen ließe. Sie würde alſo zu be- ginnen haben nicht mit dem Moment des objectiven Ereigniſſes, ſondern mit dem des ſubjectiven Wiſſens dieſes Umſtandes, und ebenſo würde ſie nur ſo lange laufen, als ſubjectiv die Möglich- keit einer Ausübung oder Geltendmachung des Rechts vorhan- den war. Ein ſolcher Zuſchnitt der Verjährung, alſo in der Sprache des römiſchen Rechts das tempus utile, wäre abſtract genommen das allein Richtige, und die entgegenſtehende Be- handlungsweiſe, das tempus continuum (S. 109) das Ver- kehrte. Praktiſch aber ſteht die Sache gerade umgekehrt, und darin hat es ſeinen Grund, daß das neueſte Recht die Idee des tempus utile, obgleich ſie die neuere und freiere war, nicht wei- ter ausgebildet, ſondern ſie im Gegentheil weſentlich beſchränkt (restitutio in integrum) und für faſt alle wichtigeren Verhält- niſſe das tempus continuum in verbeſſerter Geſtalt (d. h. mit verlängerten Zeitfriſten) beibehalten oder eingeführt hat (Klag- verjährung).
Bei der Berechnung der Zeitfriſten müßte man eigentlich von der Minute und Sekunde des Anfangspunktes bis zu der ent- ſprechenden des Schlußtages zählen (computatio naturalis), al- lein eine ſolche Genauigkeit wäre namentlich bei größern Friſten geradezu ſinnlos. Weniger genau iſt beſſer; das Recht rechnet bloß nach Tagen, auf Minuten und Stunden kömmt es nicht an (computatio civilis).
ſtimmung der Pubertät. Die Sabinianer vertheidigten in dieſer Beziehung die abſtract richtige, aber praktiſch unbrauchbare einer individuellen Beſtim- mung der Reife, die Proculejaner die praktiſchere Anſicht des Eintritts der Pubertät mit einem beſtimmten Alter (Gaj. I, 109), und letztere Anſicht iſt von Juſtinian mit Recht gebilligt.
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II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Die Verjährung, inſofern ſie durch den Geſichtspunkt der
Nachläſſigkeit des Berechtigten gerechtfertigt werden ſoll, würde
nur da Platz greifen, wo und ſoweit eine ſolche Nachläſſigkeit
ſich im einzelnen Fall nachweiſen ließe. Sie würde alſo zu be-
ginnen haben nicht mit dem Moment des objectiven Ereigniſſes,
ſondern mit dem des ſubjectiven Wiſſens dieſes Umſtandes, und
ebenſo würde ſie nur ſo lange laufen, als ſubjectiv die Möglich-
keit einer Ausübung oder Geltendmachung des Rechts vorhan-
den war. Ein ſolcher Zuſchnitt der Verjährung, alſo in der
Sprache des römiſchen Rechts das tempus utile, wäre abſtract
genommen das allein Richtige, und die entgegenſtehende Be-
handlungsweiſe, das tempus continuum (S. 109) das Ver-
kehrte. Praktiſch aber ſteht die Sache gerade umgekehrt, und
darin hat es ſeinen Grund, daß das neueſte Recht die Idee des
tempus utile, obgleich ſie die neuere und freiere war, nicht wei-
ter ausgebildet, ſondern ſie im Gegentheil weſentlich beſchränkt
(restitutio in integrum) und für faſt alle wichtigeren Verhält-
niſſe das tempus continuum in verbeſſerter Geſtalt (d. h. mit
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der Minute und Sekunde des Anfangspunktes bis zu der ent-
ſprechenden des Schlußtages zählen (computatio naturalis), al-
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geradezu ſinnlos. Weniger genau iſt beſſer; das Recht rechnet
bloß nach Tagen, auf Minuten und Stunden kömmt es nicht
an (computatio civilis).
484)
484) ſtimmung der Pubertät. Die Sabinianer vertheidigten in dieſer Beziehung
die abſtract richtige, aber praktiſch unbrauchbare einer individuellen Beſtim-
mung der Reife, die Proculejaner die praktiſchere Anſicht des Eintritts der
Pubertät mit einem beſtimmten Alter (Gaj. I, 109), und letztere Anſicht iſt
von Juſtinian mit Recht gebilligt.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/55>, abgerufen am 23.07.2024.
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