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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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II. Die Aufgabe derselben. §. 38.

5. Die Kunst der geschickten Verwendung des
Vorhandenen (die juristische Oekonomie)
.

Es ist so eben schon im allgemeinen davon die Rede gewe-
sen, im übrigen aber verweise ich auf die Darstellung der ältern
römischen Jurisprudenz.

Von diesen genannten fünf Punkten bedürfen der dritte und
vierte keiner näheren Erörterung, der fünfte wird am passend-
sten an der angegebenen Stelle abgehandelt werden, es verblei-
ben uns mithin nur der erste (§. 39) und zweite (§. 40).

II. Die qualitative Vereinfachung des Rechts. Die
Leichtigkeit und Schwierigkeit der Auffassung und Aneig-
nung eines Gegenstandes bestimmt sich nicht bloß nach dem
quantitativen Moment, nach der Ausdehnung und dem Umfang,
sondern ebenso sehr nach dem qualitativen, nach der innern
Ordnung, Symmetrie, Einheit des Gegenstandes. Qualitativ
einfach ist das Recht, wenn es wie aus Einem Gusse ist, wenn
die Theile unter sich scharf begränzt und geschieden sind und den-

nen solle, zeugt von einer zu großen Unkenntniß der praktischen Lebensgesetze
nicht bloß der juristischen, sondern einer jeden Wissenschaft, als daß ich ein
Wort dagegen verlieren möchte. Ob man für die lateinischen Ausdrücke:
culpa, dolus u. s. w. deutsche wählt, nützt dem Bürger und Bauer für das
Verständniß des Rechts nicht das mindeste, es handelt sich nicht um das Ver-
ständniß von Ausdrücken, sondern von Begriffen, und so wenig der Bauer
eine algebraische Formel darum versteht, weil sie mit gewöhnlichen Buchsta-
ben, Zahlen u. s. w. geschrieben ist, ebensowenig versteht er unsere juristischen
Formeln, wenn wir statt culpa Schuld, dolus Betrug u. s. w. sagen. Daß
aber die Ausdrücke einer todten Sprache für die Terminologie vortheilhafter
sind, als die einer lebendigen, bedarf schwerlich eines Nachweises. Der Sinn,
in dem die Wissenschaft die Worte der Muttersprache gebraucht, wird und
muß nothwendigerweise ein anderer sein, als in dem das Leben sie nimmt,
schon darum weil die Bedeutung des Ausdrucks im Leben sich nicht selten än-
dert, während die Wissenschaft bei der bisherigen verbleiben muß, und umge-
kehrt, weil das Leben sich durch die scharfe Begriffsbestimmung der Wissen-
schaft seinerseits nicht abhalten läßt, den Ausdruck in seinem Sinn zu neh-
men. Die Sprache der Wissenschaft und des Lebens sind zwei verschiedene
Sprachen.
II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.

5. Die Kunſt der geſchickten Verwendung des
Vorhandenen (die juriſtiſche Oekonomie)
.

Es iſt ſo eben ſchon im allgemeinen davon die Rede gewe-
ſen, im übrigen aber verweiſe ich auf die Darſtellung der ältern
römiſchen Jurisprudenz.

Von dieſen genannten fünf Punkten bedürfen der dritte und
vierte keiner näheren Erörterung, der fünfte wird am paſſend-
ſten an der angegebenen Stelle abgehandelt werden, es verblei-
ben uns mithin nur der erſte (§. 39) und zweite (§. 40).

II. Die qualitative Vereinfachung des Rechts. Die
Leichtigkeit und Schwierigkeit der Auffaſſung und Aneig-
nung eines Gegenſtandes beſtimmt ſich nicht bloß nach dem
quantitativen Moment, nach der Ausdehnung und dem Umfang,
ſondern ebenſo ſehr nach dem qualitativen, nach der innern
Ordnung, Symmetrie, Einheit des Gegenſtandes. Qualitativ
einfach iſt das Recht, wenn es wie aus Einem Guſſe iſt, wenn
die Theile unter ſich ſcharf begränzt und geſchieden ſind und den-

nen ſolle, zeugt von einer zu großen Unkenntniß der praktiſchen Lebensgeſetze
nicht bloß der juriſtiſchen, ſondern einer jeden Wiſſenſchaft, als daß ich ein
Wort dagegen verlieren möchte. Ob man für die lateiniſchen Ausdrücke:
culpa, dolus u. ſ. w. deutſche wählt, nützt dem Bürger und Bauer für das
Verſtändniß des Rechts nicht das mindeſte, es handelt ſich nicht um das Ver-
ſtändniß von Ausdrücken, ſondern von Begriffen, und ſo wenig der Bauer
eine algebraiſche Formel darum verſteht, weil ſie mit gewöhnlichen Buchſta-
ben, Zahlen u. ſ. w. geſchrieben iſt, ebenſowenig verſteht er unſere juriſtiſchen
Formeln, wenn wir ſtatt culpa Schuld, dolus Betrug u. ſ. w. ſagen. Daß
aber die Ausdrücke einer todten Sprache für die Terminologie vortheilhafter
ſind, als die einer lebendigen, bedarf ſchwerlich eines Nachweiſes. Der Sinn,
in dem die Wiſſenſchaft die Worte der Mutterſprache gebraucht, wird und
muß nothwendigerweiſe ein anderer ſein, als in dem das Leben ſie nimmt,
ſchon darum weil die Bedeutung des Ausdrucks im Leben ſich nicht ſelten än-
dert, während die Wiſſenſchaft bei der bisherigen verbleiben muß, und umge-
kehrt, weil das Leben ſich durch die ſcharfe Begriffsbeſtimmung der Wiſſen-
ſchaft ſeinerſeits nicht abhalten läßt, den Ausdruck in ſeinem Sinn zu neh-
men. Die Sprache der Wiſſenſchaft und des Lebens ſind zwei verſchiedene
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[345/0051] II. Die Aufgabe derſelben. §. 38. 5. Die Kunſt der geſchickten Verwendung des Vorhandenen (die juriſtiſche Oekonomie). Es iſt ſo eben ſchon im allgemeinen davon die Rede gewe- ſen, im übrigen aber verweiſe ich auf die Darſtellung der ältern römiſchen Jurisprudenz. Von dieſen genannten fünf Punkten bedürfen der dritte und vierte keiner näheren Erörterung, der fünfte wird am paſſend- ſten an der angegebenen Stelle abgehandelt werden, es verblei- ben uns mithin nur der erſte (§. 39) und zweite (§. 40). II. Die qualitative Vereinfachung des Rechts. Die Leichtigkeit und Schwierigkeit der Auffaſſung und Aneig- nung eines Gegenſtandes beſtimmt ſich nicht bloß nach dem quantitativen Moment, nach der Ausdehnung und dem Umfang, ſondern ebenſo ſehr nach dem qualitativen, nach der innern Ordnung, Symmetrie, Einheit des Gegenſtandes. Qualitativ einfach iſt das Recht, wenn es wie aus Einem Guſſe iſt, wenn die Theile unter ſich ſcharf begränzt und geſchieden ſind und den- 482) 482) nen ſolle, zeugt von einer zu großen Unkenntniß der praktiſchen Lebensgeſetze nicht bloß der juriſtiſchen, ſondern einer jeden Wiſſenſchaft, als daß ich ein Wort dagegen verlieren möchte. Ob man für die lateiniſchen Ausdrücke: culpa, dolus u. ſ. w. deutſche wählt, nützt dem Bürger und Bauer für das Verſtändniß des Rechts nicht das mindeſte, es handelt ſich nicht um das Ver- ſtändniß von Ausdrücken, ſondern von Begriffen, und ſo wenig der Bauer eine algebraiſche Formel darum verſteht, weil ſie mit gewöhnlichen Buchſta- ben, Zahlen u. ſ. w. geſchrieben iſt, ebenſowenig verſteht er unſere juriſtiſchen Formeln, wenn wir ſtatt culpa Schuld, dolus Betrug u. ſ. w. ſagen. Daß aber die Ausdrücke einer todten Sprache für die Terminologie vortheilhafter ſind, als die einer lebendigen, bedarf ſchwerlich eines Nachweiſes. Der Sinn, in dem die Wiſſenſchaft die Worte der Mutterſprache gebraucht, wird und muß nothwendigerweiſe ein anderer ſein, als in dem das Leben ſie nimmt, ſchon darum weil die Bedeutung des Ausdrucks im Leben ſich nicht ſelten än- dert, während die Wiſſenſchaft bei der bisherigen verbleiben muß, und umge- kehrt, weil das Leben ſich durch die ſcharfe Begriffsbeſtimmung der Wiſſen- ſchaft ſeinerſeits nicht abhalten läßt, den Ausdruck in ſeinem Sinn zu neh- men. Die Sprache der Wiſſenſchaft und des Lebens ſind zwei verſchiedene Sprachen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/51>, abgerufen am 27.11.2024.