Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
territorien und bis zu einem gewissen Grade das Domicil der Rechtsverhältnisse bestimmt (Frage von der Collision frem- der und einheimischer Gesetze).
Diese Gestalt nun, die unser heutiges Recht der Raumfrage gegeben hat, macht uns, eben weil sie den Ausdruck unserer mo- dernen Anschauungsweise enthält, den Eindruck der höchsten Na- türlichkeit und Nothwendigkeit. Dem alten Römer würde sie, wie bereits bemerkt, als das gerade Gegentheil erschienen sein -- ein abermaliger Beleg dafür, welche Bewandniß es mit dem Begriff des "Natürlichen" hat! Das Natürliche ist das, was der Anschauungsweise einer bestimmten Zeit entspricht -- was die- ser Zeit natürlich, erscheint jener als völlig unnatürlich. Der Ge- gensatz der Anschauungsweise, welcher der Behandlungsweise des heutigen und altrömischen Rechts zu Grunde liegt, läßt sich mit einem Wort bezeichnen -- es ist der uns wohlbekannte der abstracten und sinnlichen. Die Gestalt, die das Verhält- niß im altrömischen Recht an sich trägt, ist nichts als ein abermaliger und höchst schlagender Beleg für die Macht des sinnlichen Elements. Sie war eine im hohen Grade unbequeme -- eine Fessel für den Verkehr, die man sich selbst geschmiedet hatte, ein Joch, das man trug, weil und so lange man daran glaubte. Aber um sich von dem Glauben daran und damit von ihm selbst loszureißen, dazu gehörte erst ein Umschwung in der ganzen Anschauung, wie er sich nur im Lauf der Jahrhunderte und unter dem drängenden und zwingenden Einfluß bedeutender äußerer Veränderungen vollziehen konnte.
Der Begriff des Rechtsgeschäfts unter Abwesenden besteht darin, daß die handelnden Personen sich an zwei verschiede- nen Orten befinden. Diese Doppeltheit des Orts bei einem und demselben Rechtsgeschäft widerstrebt dem einfachen Sinn. Denn wenn es ein Geschäft sein soll, so ist auch Einheit der Handlung erforderlich; wie wäre aber letztere möglich, wenn die Personen nicht an demselben Ort gegenwärtig sind? Offerte und Accept, Frage und Antwort, Absenden und Eintreffen der
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
territorien und bis zu einem gewiſſen Grade das Domicil der Rechtsverhältniſſe beſtimmt (Frage von der Colliſion frem- der und einheimiſcher Geſetze).
Dieſe Geſtalt nun, die unſer heutiges Recht der Raumfrage gegeben hat, macht uns, eben weil ſie den Ausdruck unſerer mo- dernen Anſchauungsweiſe enthält, den Eindruck der höchſten Na- türlichkeit und Nothwendigkeit. Dem alten Römer würde ſie, wie bereits bemerkt, als das gerade Gegentheil erſchienen ſein — ein abermaliger Beleg dafür, welche Bewandniß es mit dem Begriff des „Natürlichen“ hat! Das Natürliche iſt das, was der Anſchauungsweiſe einer beſtimmten Zeit entſpricht — was die- ſer Zeit natürlich, erſcheint jener als völlig unnatürlich. Der Ge- genſatz der Anſchauungsweiſe, welcher der Behandlungsweiſe des heutigen und altrömiſchen Rechts zu Grunde liegt, läßt ſich mit einem Wort bezeichnen — es iſt der uns wohlbekannte der abſtracten und ſinnlichen. Die Geſtalt, die das Verhält- niß im altrömiſchen Recht an ſich trägt, iſt nichts als ein abermaliger und höchſt ſchlagender Beleg für die Macht des ſinnlichen Elements. Sie war eine im hohen Grade unbequeme — eine Feſſel für den Verkehr, die man ſich ſelbſt geſchmiedet hatte, ein Joch, das man trug, weil und ſo lange man daran glaubte. Aber um ſich von dem Glauben daran und damit von ihm ſelbſt loszureißen, dazu gehörte erſt ein Umſchwung in der ganzen Anſchauung, wie er ſich nur im Lauf der Jahrhunderte und unter dem drängenden und zwingenden Einfluß bedeutender äußerer Veränderungen vollziehen konnte.
Der Begriff des Rechtsgeſchäfts unter Abweſenden beſteht darin, daß die handelnden Perſonen ſich an zwei verſchiede- nen Orten befinden. Dieſe Doppeltheit des Orts bei einem und demſelben Rechtsgeſchäft widerſtrebt dem einfachen Sinn. Denn wenn es ein Geſchäft ſein ſoll, ſo iſt auch Einheit der Handlung erforderlich; wie wäre aber letztere möglich, wenn die Perſonen nicht an demſelben Ort gegenwärtig ſind? Offerte und Accept, Frage und Antwort, Abſenden und Eintreffen der
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
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der Rechtsverhältniſſe beſtimmt (Frage von der Colliſion frem-
der und einheimiſcher Geſetze).
Dieſe Geſtalt nun, die unſer heutiges Recht der Raumfrage
gegeben hat, macht uns, eben weil ſie den Ausdruck unſerer mo-
dernen Anſchauungsweiſe enthält, den Eindruck der höchſten Na-
türlichkeit und Nothwendigkeit. Dem alten Römer würde ſie,
wie bereits bemerkt, als das gerade Gegentheil erſchienen ſein —
ein abermaliger Beleg dafür, welche Bewandniß es mit dem
Begriff des „Natürlichen“ hat! Das Natürliche iſt das, was der
Anſchauungsweiſe einer beſtimmten Zeit entſpricht — was die-
ſer Zeit natürlich, erſcheint jener als völlig unnatürlich. Der Ge-
genſatz der Anſchauungsweiſe, welcher der Behandlungsweiſe des
heutigen und altrömiſchen Rechts zu Grunde liegt, läßt ſich mit
einem Wort bezeichnen — es iſt der uns wohlbekannte der
abſtracten und ſinnlichen. Die Geſtalt, die das Verhält-
niß im altrömiſchen Recht an ſich trägt, iſt nichts als ein
abermaliger und höchſt ſchlagender Beleg für die Macht des
ſinnlichen Elements. Sie war eine im hohen Grade unbequeme
— eine Feſſel für den Verkehr, die man ſich ſelbſt geſchmiedet
hatte, ein Joch, das man trug, weil und ſo lange man daran
glaubte. Aber um ſich von dem Glauben daran und damit von
ihm ſelbſt loszureißen, dazu gehörte erſt ein Umſchwung in der
ganzen Anſchauung, wie er ſich nur im Lauf der Jahrhunderte
und unter dem drängenden und zwingenden Einfluß bedeutender
äußerer Veränderungen vollziehen konnte.
Der Begriff des Rechtsgeſchäfts unter Abweſenden beſteht
darin, daß die handelnden Perſonen ſich an zwei verſchiede-
nen Orten befinden. Dieſe Doppeltheit des Orts bei einem
und demſelben Rechtsgeſchäft widerſtrebt dem einfachen Sinn.
Denn wenn es ein Geſchäft ſein ſoll, ſo iſt auch Einheit der
Handlung erforderlich; wie wäre aber letztere möglich, wenn
die Perſonen nicht an demſelben Ort gegenwärtig ſind? Offerte
und Accept, Frage und Antwort, Abſenden und Eintreffen der
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/391>, abgerufen am 23.07.2024.
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