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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
gefunden. Die Legisactionen waren Individuen, wie Krystalle:
scharfkantig, spitz, bis ins Kleinste hinein fest, bestimmt, unab-
änderlich. Einer Jurisprudenz, die Jahrhunderte lang sie vor
Augen und mit ihnen zu operiren hatte -- einer solchen Juris-
prudenz, meine ich, mußte die Idee der Individualität der Klage
bis zur Unvergeßlichkeit eingeprägt werden.


Zu der im bisherigen vorgetragenen Auffassung der Legis-
actionen steht im Widerspruch die Ansicht eines neuern Schrift-
stellers, 910) deren Betrachtung ich aus Gründen der Darstellung
bis jetzt aufgeschoben habe.

Die Ansicht soll zwar zunächst nur den Ursprung der Le-
gisactionen bestimmen, allein sie trifft mittelbar das ganze We-
sen derselben. Ihr Kern besteht darin: die Formeln hätten einen
heiligen, religiösen Charakter an sich getragen, ein Versehen in
dem Gebrauch derselben sei folgeweise unter den Gesichtspunkt
einer Sünde gegen die Götter gefallen.

Was den Verfasser zuerst darauf gebracht hat, den letzten
Grund der Legisactionen im Himmel zu suchen, ist seiner eignen
Erklärung zufolge die excessive Aengstlichkeit, mit der die Römer
bei ihnen das Wort handhabten. Es würde ihm, wenn er sei-
nen Blick etwas weiter hätte schweifen lassen wollen, an Paral-
lelen auf Erden nicht gefehlt haben. Um von den Formeln des
materiellen römischen Rechts zu schweigen, für die er jenen Cha-
rakter ebensowenig in Anspruch nehmen wird, als für die des
spätern Processes, so hätte ihn das Beispiel des isländischen und
englischen Rechts (S. 625 und Note 874) lehren können, daß
das Formelwesen auch auf profanem Boden zu einer Blüthe ge-
deihen kann, die hinter der im alten Rom um nichts zurücksteht.

Auch daß die Diener der Götter, die Pontifices, die Verfas-
ser und Hüter der Legisactionen waren, findet zu jeder Zeit,
in der die Geistlichen die Träger der gelehrten Bildung oder,

910) A. Schmidt in der oben Note 872 citirten Gelegenheitsschrift.
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
gefunden. Die Legisactionen waren Individuen, wie Kryſtalle:
ſcharfkantig, ſpitz, bis ins Kleinſte hinein feſt, beſtimmt, unab-
änderlich. Einer Jurisprudenz, die Jahrhunderte lang ſie vor
Augen und mit ihnen zu operiren hatte — einer ſolchen Juris-
prudenz, meine ich, mußte die Idee der Individualität der Klage
bis zur Unvergeßlichkeit eingeprägt werden.


Zu der im bisherigen vorgetragenen Auffaſſung der Legis-
actionen ſteht im Widerſpruch die Anſicht eines neuern Schrift-
ſtellers, 910) deren Betrachtung ich aus Gründen der Darſtellung
bis jetzt aufgeſchoben habe.

Die Anſicht ſoll zwar zunächſt nur den Urſprung der Le-
gisactionen beſtimmen, allein ſie trifft mittelbar das ganze We-
ſen derſelben. Ihr Kern beſteht darin: die Formeln hätten einen
heiligen, religiöſen Charakter an ſich getragen, ein Verſehen in
dem Gebrauch derſelben ſei folgeweiſe unter den Geſichtspunkt
einer Sünde gegen die Götter gefallen.

Was den Verfaſſer zuerſt darauf gebracht hat, den letzten
Grund der Legisactionen im Himmel zu ſuchen, iſt ſeiner eignen
Erklärung zufolge die exceſſive Aengſtlichkeit, mit der die Römer
bei ihnen das Wort handhabten. Es würde ihm, wenn er ſei-
nen Blick etwas weiter hätte ſchweifen laſſen wollen, an Paral-
lelen auf Erden nicht gefehlt haben. Um von den Formeln des
materiellen römiſchen Rechts zu ſchweigen, für die er jenen Cha-
rakter ebenſowenig in Anſpruch nehmen wird, als für die des
ſpätern Proceſſes, ſo hätte ihn das Beiſpiel des isländiſchen und
engliſchen Rechts (S. 625 und Note 874) lehren können, daß
das Formelweſen auch auf profanem Boden zu einer Blüthe ge-
deihen kann, die hinter der im alten Rom um nichts zurückſteht.

Auch daß die Diener der Götter, die Pontifices, die Verfaſ-
ſer und Hüter der Legisactionen waren, findet zu jeder Zeit,
in der die Geiſtlichen die Träger der gelehrten Bildung oder,

910) A. Schmidt in der oben Note 872 citirten Gelegenheitsſchrift.
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[675/0381] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. gefunden. Die Legisactionen waren Individuen, wie Kryſtalle: ſcharfkantig, ſpitz, bis ins Kleinſte hinein feſt, beſtimmt, unab- änderlich. Einer Jurisprudenz, die Jahrhunderte lang ſie vor Augen und mit ihnen zu operiren hatte — einer ſolchen Juris- prudenz, meine ich, mußte die Idee der Individualität der Klage bis zur Unvergeßlichkeit eingeprägt werden. Zu der im bisherigen vorgetragenen Auffaſſung der Legis- actionen ſteht im Widerſpruch die Anſicht eines neuern Schrift- ſtellers, 910) deren Betrachtung ich aus Gründen der Darſtellung bis jetzt aufgeſchoben habe. Die Anſicht ſoll zwar zunächſt nur den Urſprung der Le- gisactionen beſtimmen, allein ſie trifft mittelbar das ganze We- ſen derſelben. Ihr Kern beſteht darin: die Formeln hätten einen heiligen, religiöſen Charakter an ſich getragen, ein Verſehen in dem Gebrauch derſelben ſei folgeweiſe unter den Geſichtspunkt einer Sünde gegen die Götter gefallen. Was den Verfaſſer zuerſt darauf gebracht hat, den letzten Grund der Legisactionen im Himmel zu ſuchen, iſt ſeiner eignen Erklärung zufolge die exceſſive Aengſtlichkeit, mit der die Römer bei ihnen das Wort handhabten. Es würde ihm, wenn er ſei- nen Blick etwas weiter hätte ſchweifen laſſen wollen, an Paral- lelen auf Erden nicht gefehlt haben. Um von den Formeln des materiellen römiſchen Rechts zu ſchweigen, für die er jenen Cha- rakter ebenſowenig in Anſpruch nehmen wird, als für die des ſpätern Proceſſes, ſo hätte ihn das Beiſpiel des isländiſchen und engliſchen Rechts (S. 625 und Note 874) lehren können, daß das Formelweſen auch auf profanem Boden zu einer Blüthe ge- deihen kann, die hinter der im alten Rom um nichts zurückſteht. Auch daß die Diener der Götter, die Pontifices, die Verfaſ- ſer und Hüter der Legisactionen waren, findet zu jeder Zeit, in der die Geiſtlichen die Träger der gelehrten Bildung oder, 910) A. Schmidt in der oben Note 872 citirten Gelegenheitsſchrift. 43*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/381>, abgerufen am 24.11.2024.