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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
rechtlichnothwendige. 802) Das ältere Recht kennt keinen
solennen Akt, bei dem die Schrift die Rede hätte ersetzen kön-
nen. 803) Freilich neben der Rede mag in Rom von Altersher,
wie bei den Gesetzen und Bündnissen, so auch bei wichtigen
Geschäften des Privatrechts eine schriftliche Aufzeichnung üblich
gewesen sein, aber ich muß es betonen: neben, nicht statt
der Schrift. Ein Testament, eine umfangreiche Stipulation
mochte man immerhin aufzeichnen und von Zeugen oder der
Gegenparthei unterzeichnen lassen -- die Schrift hatte hier
durchaus keine juristische Bedeutung, die Gültigkeit des Ge-
schäfts beruhte lediglich auf der mündlichen Vornahme. Bei
beiden Geschäften aber durfte letztere nach der uns bekannten
Gestalt der Sache eine abstracte sein, d. h. man konnte, ohne
das Mindeste vom Inhalt der Urkunde mitzutheilen, sich in der
Formel des Geschäfts einfach auf letztere beziehen, also z. B.:
ich testire, wie in dieser Urkunde geschrieben -- versprichst Du
alles zu leisten, was in dieser Urkunde verzeichnet? 804) Der
juristischen Auffassung nach war das Geschäft mündlich ge-
schlossen, denn der ganze Inhalt der Urkunde war ja vom Re-
denden genehmigt, anerkannt, er hatte gesprochen durch
Verweisung.

War diese Gestalt der Sache die ursprüngliche? Ich meine,
Jeder muß ihr den Zug der abstracten Periode anmerken. Sie
enthält in Wirklichkeit eine Trennung des concreten Inhalts

802) Als Princip ausgesprochen ist es meines Wissens nirgends, eben
weil es sich für den Römer von selbst verstand. Für die Mancipation und
das Nexum lag es in den Worten der Tafeln: uti lingua nuncu-
passit
.
803) Daher noch im späteren Recht die Wendung: legem dicere
(z. B. suae rei) für eine Vertragsbestimmung schlechthin.
804) Haec uti in his tabulis cerisve scripta sunt, ita do ita lego,
ita testor. Ulp. XX, 9.
Ein Beispiel aus dem geistlichen Rechte gewährt
die Einweihung eines Tempels unter Bezugnahme auf die Fundationsurkunde
eines anderen Tempels s. bei Briss. I, 194: ceterae leges huic arae eae-
dem sunto, quae arae Dianae sunt in Aventino dictae.

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
rechtlichnothwendige. 802) Das ältere Recht kennt keinen
ſolennen Akt, bei dem die Schrift die Rede hätte erſetzen kön-
nen. 803) Freilich neben der Rede mag in Rom von Altersher,
wie bei den Geſetzen und Bündniſſen, ſo auch bei wichtigen
Geſchäften des Privatrechts eine ſchriftliche Aufzeichnung üblich
geweſen ſein, aber ich muß es betonen: neben, nicht ſtatt
der Schrift. Ein Teſtament, eine umfangreiche Stipulation
mochte man immerhin aufzeichnen und von Zeugen oder der
Gegenparthei unterzeichnen laſſen — die Schrift hatte hier
durchaus keine juriſtiſche Bedeutung, die Gültigkeit des Ge-
ſchäfts beruhte lediglich auf der mündlichen Vornahme. Bei
beiden Geſchäften aber durfte letztere nach der uns bekannten
Geſtalt der Sache eine abſtracte ſein, d. h. man konnte, ohne
das Mindeſte vom Inhalt der Urkunde mitzutheilen, ſich in der
Formel des Geſchäfts einfach auf letztere beziehen, alſo z. B.:
ich teſtire, wie in dieſer Urkunde geſchrieben — verſprichſt Du
alles zu leiſten, was in dieſer Urkunde verzeichnet? 804) Der
juriſtiſchen Auffaſſung nach war das Geſchäft mündlich ge-
ſchloſſen, denn der ganze Inhalt der Urkunde war ja vom Re-
denden genehmigt, anerkannt, er hatte geſprochen durch
Verweiſung.

War dieſe Geſtalt der Sache die urſprüngliche? Ich meine,
Jeder muß ihr den Zug der abſtracten Periode anmerken. Sie
enthält in Wirklichkeit eine Trennung des concreten Inhalts

802) Als Princip ausgeſprochen iſt es meines Wiſſens nirgends, eben
weil es ſich für den Römer von ſelbſt verſtand. Für die Mancipation und
das Nexum lag es in den Worten der Tafeln: uti lingua nuncu-
passit
.
803) Daher noch im ſpäteren Recht die Wendung: legem dicere
(z. B. suae rei) für eine Vertragsbeſtimmung ſchlechthin.
804) Haec uti in his tabulis cerisve scripta sunt, ita do ita lego,
ita testor. Ulp. XX, 9.
Ein Beiſpiel aus dem geiſtlichen Rechte gewährt
die Einweihung eines Tempels unter Bezugnahme auf die Fundationsurkunde
eines anderen Tempels ſ. bei Briss. I, 194: ceterae leges huic arae eae-
dem sunto, quae arae Dianae sunt in Aventino dictae.
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[617/0323] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. rechtlichnothwendige. 802) Das ältere Recht kennt keinen ſolennen Akt, bei dem die Schrift die Rede hätte erſetzen kön- nen. 803) Freilich neben der Rede mag in Rom von Altersher, wie bei den Geſetzen und Bündniſſen, ſo auch bei wichtigen Geſchäften des Privatrechts eine ſchriftliche Aufzeichnung üblich geweſen ſein, aber ich muß es betonen: neben, nicht ſtatt der Schrift. Ein Teſtament, eine umfangreiche Stipulation mochte man immerhin aufzeichnen und von Zeugen oder der Gegenparthei unterzeichnen laſſen — die Schrift hatte hier durchaus keine juriſtiſche Bedeutung, die Gültigkeit des Ge- ſchäfts beruhte lediglich auf der mündlichen Vornahme. Bei beiden Geſchäften aber durfte letztere nach der uns bekannten Geſtalt der Sache eine abſtracte ſein, d. h. man konnte, ohne das Mindeſte vom Inhalt der Urkunde mitzutheilen, ſich in der Formel des Geſchäfts einfach auf letztere beziehen, alſo z. B.: ich teſtire, wie in dieſer Urkunde geſchrieben — verſprichſt Du alles zu leiſten, was in dieſer Urkunde verzeichnet? 804) Der juriſtiſchen Auffaſſung nach war das Geſchäft mündlich ge- ſchloſſen, denn der ganze Inhalt der Urkunde war ja vom Re- denden genehmigt, anerkannt, er hatte geſprochen durch Verweiſung. War dieſe Geſtalt der Sache die urſprüngliche? Ich meine, Jeder muß ihr den Zug der abſtracten Periode anmerken. Sie enthält in Wirklichkeit eine Trennung des concreten Inhalts 802) Als Princip ausgeſprochen iſt es meines Wiſſens nirgends, eben weil es ſich für den Römer von ſelbſt verſtand. Für die Mancipation und das Nexum lag es in den Worten der Tafeln: uti lingua nuncu- passit. 803) Daher noch im ſpäteren Recht die Wendung: legem dicere (z. B. suae rei) für eine Vertragsbeſtimmung ſchlechthin. 804) Haec uti in his tabulis cerisve scripta sunt, ita do ita lego, ita testor. Ulp. XX, 9. Ein Beiſpiel aus dem geiſtlichen Rechte gewährt die Einweihung eines Tempels unter Bezugnahme auf die Fundationsurkunde eines anderen Tempels ſ. bei Briss. I, 194: ceterae leges huic arae eae- dem sunto, quae arae Dianae sunt in Aventino dictae.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/323>, abgerufen am 21.11.2024.