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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
eine allmählige Verdrängung der Formensprache nach sich gezo-
gen haben, auf der Höhe der Cultur müßten alle Reste der nai-
ven Periode abgethan sein, und die Form, insoweit nicht, wie
im Recht, ein praktisches Motiv ihr das Dasein fristete, dem
nackten, dürren, abstracten Gedanken Platz gemacht haben.
Allein dies ist keineswegs der Fall, so wenig ich im übrigen
läugnen will, daß die Veränderung der geistigen Atmosphäre
einen bemerklichen Einfluß in dieser Beziehung ausübt.

Also: der Formalismus ist nicht bloß ein Nothbehelf des
nach dem Ausdruck ringenden Geistes, er hat nicht bloß seinen
Grund in der ursprünglichen Unvollkommenheit der Sprache.
Zu diesem ersten Motiv seines historischen Auftretens, das sich
mit der Kindheitszeit der Völker erschöpft, gesellt sich vielmehr
noch ein zweites, das dieselbe weit überdauert. Es ist das
so eben angegebene: das Wohlgefallen an der Aeußerlichkeit,
die Freude am Sinnlichen -- jene Eigenschaft, deren ich bereits
oben S. 531 unter dem Namen des Formensinns gedacht
habe.

Die Anziehungskraft, die die Form auf den menschlichen
Geist ausübt, ist mannigfaltiger Art. Fesselt sie den poetischen
Sinn von der rein ästhetischen Seite durch das plastische
und dramatische Element, durch das sie die Vorgänge des
Lebens zu verschönern weiß, so den nüchternen, verständigen
Sinn von der praktischen Seite durch die Ordnung, Regel-
mäßigkeit, Gleichmäßigkeit, Sauberkeit des menschlichen Seins
und Thuns, und das Gemüth endlich bei allen Vorgängen, bei
denen dasselbe betheiligt ist, von der ethischen Seite, indem sie
dasselbe mit dem Gefühl des Ernstes und der Feierlichkeit durch-
dringt, indem sie den Handelnden über sich selbst und das rein
Individuelle und Vorübergehende seiner eignen Situation auf
die Höhe der allgemein menschlichen, typischen Bedeutung des
Akts erhebt, ihn mit denen, die vor ihm da waren und nach
ihm sein werden, in eine unsichtbare Gemeinschaft bringt.

Diese Mannigfaltigkeit der Anknüpfungspunkte, die die

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
eine allmählige Verdrängung der Formenſprache nach ſich gezo-
gen haben, auf der Höhe der Cultur müßten alle Reſte der nai-
ven Periode abgethan ſein, und die Form, inſoweit nicht, wie
im Recht, ein praktiſches Motiv ihr das Daſein friſtete, dem
nackten, dürren, abſtracten Gedanken Platz gemacht haben.
Allein dies iſt keineswegs der Fall, ſo wenig ich im übrigen
läugnen will, daß die Veränderung der geiſtigen Atmoſphäre
einen bemerklichen Einfluß in dieſer Beziehung ausübt.

Alſo: der Formalismus iſt nicht bloß ein Nothbehelf des
nach dem Ausdruck ringenden Geiſtes, er hat nicht bloß ſeinen
Grund in der urſprünglichen Unvollkommenheit der Sprache.
Zu dieſem erſten Motiv ſeines hiſtoriſchen Auftretens, das ſich
mit der Kindheitszeit der Völker erſchöpft, geſellt ſich vielmehr
noch ein zweites, das dieſelbe weit überdauert. Es iſt das
ſo eben angegebene: das Wohlgefallen an der Aeußerlichkeit,
die Freude am Sinnlichen — jene Eigenſchaft, deren ich bereits
oben S. 531 unter dem Namen des Formenſinns gedacht
habe.

Die Anziehungskraft, die die Form auf den menſchlichen
Geiſt ausübt, iſt mannigfaltiger Art. Feſſelt ſie den poetiſchen
Sinn von der rein äſthetiſchen Seite durch das plaſtiſche
und dramatiſche Element, durch das ſie die Vorgänge des
Lebens zu verſchönern weiß, ſo den nüchternen, verſtändigen
Sinn von der praktiſchen Seite durch die Ordnung, Regel-
mäßigkeit, Gleichmäßigkeit, Sauberkeit des menſchlichen Seins
und Thuns, und das Gemüth endlich bei allen Vorgängen, bei
denen daſſelbe betheiligt iſt, von der ethiſchen Seite, indem ſie
daſſelbe mit dem Gefühl des Ernſtes und der Feierlichkeit durch-
dringt, indem ſie den Handelnden über ſich ſelbſt und das rein
Individuelle und Vorübergehende ſeiner eignen Situation auf
die Höhe der allgemein menſchlichen, typiſchen Bedeutung des
Akts erhebt, ihn mit denen, die vor ihm da waren und nach
ihm ſein werden, in eine unſichtbare Gemeinſchaft bringt.

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[536/0242] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. eine allmählige Verdrängung der Formenſprache nach ſich gezo- gen haben, auf der Höhe der Cultur müßten alle Reſte der nai- ven Periode abgethan ſein, und die Form, inſoweit nicht, wie im Recht, ein praktiſches Motiv ihr das Daſein friſtete, dem nackten, dürren, abſtracten Gedanken Platz gemacht haben. Allein dies iſt keineswegs der Fall, ſo wenig ich im übrigen läugnen will, daß die Veränderung der geiſtigen Atmoſphäre einen bemerklichen Einfluß in dieſer Beziehung ausübt. Alſo: der Formalismus iſt nicht bloß ein Nothbehelf des nach dem Ausdruck ringenden Geiſtes, er hat nicht bloß ſeinen Grund in der urſprünglichen Unvollkommenheit der Sprache. Zu dieſem erſten Motiv ſeines hiſtoriſchen Auftretens, das ſich mit der Kindheitszeit der Völker erſchöpft, geſellt ſich vielmehr noch ein zweites, das dieſelbe weit überdauert. Es iſt das ſo eben angegebene: das Wohlgefallen an der Aeußerlichkeit, die Freude am Sinnlichen — jene Eigenſchaft, deren ich bereits oben S. 531 unter dem Namen des Formenſinns gedacht habe. Die Anziehungskraft, die die Form auf den menſchlichen Geiſt ausübt, iſt mannigfaltiger Art. Feſſelt ſie den poetiſchen Sinn von der rein äſthetiſchen Seite durch das plaſtiſche und dramatiſche Element, durch das ſie die Vorgänge des Lebens zu verſchönern weiß, ſo den nüchternen, verſtändigen Sinn von der praktiſchen Seite durch die Ordnung, Regel- mäßigkeit, Gleichmäßigkeit, Sauberkeit des menſchlichen Seins und Thuns, und das Gemüth endlich bei allen Vorgängen, bei denen daſſelbe betheiligt iſt, von der ethiſchen Seite, indem ſie daſſelbe mit dem Gefühl des Ernſtes und der Feierlichkeit durch- dringt, indem ſie den Handelnden über ſich ſelbſt und das rein Individuelle und Vorübergehende ſeiner eignen Situation auf die Höhe der allgemein menſchlichen, typiſchen Bedeutung des Akts erhebt, ihn mit denen, die vor ihm da waren und nach ihm ſein werden, in eine unſichtbare Gemeinſchaft bringt. Dieſe Mannigfaltigkeit der Anknüpfungspunkte, die die

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/242>, abgerufen am 29.11.2024.