Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Töchter und Enkel durch einmaligen Verkauf frei, sondern: so ist rücksichtlich ihrer das dem Vater an sich zuständige Ver- kaufsrecht keiner Beschränkung unterworfen. Das eben aber war es, was man vermeiden wollte!
Auf Grund der bisherigen Ausführung wird sich die be- reits früher S. 70 angedeutete Behauptung rechtfertigen, daß das Verhältniß der alten Jurisprudenz zu dem Gesetz keines- wegs das einer rückhaltslosen Unterordnung unter den Buch- staben desselben war, wie das Wesen der strengen Wortinterpre- tation es mit sich bringt, sondern ich möchte fast sagen, ein freieres, als es unsere heutige Jurisprudenz einnimmt. Denn sie beschied sich nicht bloß aus zulegen, sondern sie legte unter, sie drehte und deutete das Gesetz, wie sie es haben wollte, sie stellte sich, wenn auch der Form nach unter, doch der Sache nach über das Gesetz. Daß manche ihrer Auslegungen weder den Worten, noch dem Sinn des Gesetzes entsprachen, daß sie mit den Worten des Gesetzes hie und da geradezu ein Spiel trieb, das kann sie sich selbst unmöglich verhehlt haben. Nicht die Frage nach der Richtigkeit der Auslegung, sei es der bloßen Worte, sei es des legislativen Gedankens, entschied über die Annahme oder Verwerfung derselben, sondern die Frage von der praktischen Angemessenheit derselben. Oder hätten in der That die alten Juristen so blöden Auges sein sollen, daß sie nicht gesehen, auf wie schwachen Füßen so manche von ihren Auslegungen stand? Sie wollten es nicht sehen, es war Sache einer stillschweigenden Convention, es mit dem, was Noth that, rücksichtlich der Gründe nicht so genau zu nehmen. Das praktische Bedürfniß, das Interesse der juristischen Kunst, kurz Rücksichten, die der Auslegung als solcher fremd sind, saßen bei der Auslegung des Gesetzes mit zu Rathe, und die Ueber- zeugung von dem innern Werth der aufgestellten Ansicht be- ruhigte das Gewissen des Exegeten über die Schwäche ihrer äuße- ren Begründung. Als die Zeit es mit sich brachte, für die Er- haltung des Vermögens im Mannsstamm Vorsorge zu treffen,
Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Töchter und Enkel durch einmaligen Verkauf frei, ſondern: ſo iſt rückſichtlich ihrer das dem Vater an ſich zuſtändige Ver- kaufsrecht keiner Beſchränkung unterworfen. Das eben aber war es, was man vermeiden wollte!
Auf Grund der bisherigen Ausführung wird ſich die be- reits früher S. 70 angedeutete Behauptung rechtfertigen, daß das Verhältniß der alten Jurisprudenz zu dem Geſetz keines- wegs das einer rückhaltsloſen Unterordnung unter den Buch- ſtaben deſſelben war, wie das Weſen der ſtrengen Wortinterpre- tation es mit ſich bringt, ſondern ich möchte faſt ſagen, ein freieres, als es unſere heutige Jurisprudenz einnimmt. Denn ſie beſchied ſich nicht bloß aus zulegen, ſondern ſie legte unter, ſie drehte und deutete das Geſetz, wie ſie es haben wollte, ſie ſtellte ſich, wenn auch der Form nach unter, doch der Sache nach über das Geſetz. Daß manche ihrer Auslegungen weder den Worten, noch dem Sinn des Geſetzes entſprachen, daß ſie mit den Worten des Geſetzes hie und da geradezu ein Spiel trieb, das kann ſie ſich ſelbſt unmöglich verhehlt haben. Nicht die Frage nach der Richtigkeit der Auslegung, ſei es der bloßen Worte, ſei es des legislativen Gedankens, entſchied über die Annahme oder Verwerfung derſelben, ſondern die Frage von der praktiſchen Angemeſſenheit derſelben. Oder hätten in der That die alten Juriſten ſo blöden Auges ſein ſollen, daß ſie nicht geſehen, auf wie ſchwachen Füßen ſo manche von ihren Auslegungen ſtand? Sie wollten es nicht ſehen, es war Sache einer ſtillſchweigenden Convention, es mit dem, was Noth that, rückſichtlich der Gründe nicht ſo genau zu nehmen. Das praktiſche Bedürfniß, das Intereſſe der juriſtiſchen Kunſt, kurz Rückſichten, die der Auslegung als ſolcher fremd ſind, ſaßen bei der Auslegung des Geſetzes mit zu Rathe, und die Ueber- zeugung von dem innern Werth der aufgeſtellten Anſicht be- ruhigte das Gewiſſen des Exegeten über die Schwäche ihrer äuße- ren Begründung. Als die Zeit es mit ſich brachte, für die Er- haltung des Vermögens im Mannsſtamm Vorſorge zu treffen,
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Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Töchter und Enkel durch einmaligen Verkauf frei, ſondern:
ſo iſt rückſichtlich ihrer das dem Vater an ſich zuſtändige Ver-
kaufsrecht keiner Beſchränkung unterworfen. Das eben aber
war es, was man vermeiden wollte!
Auf Grund der bisherigen Ausführung wird ſich die be-
reits früher S. 70 angedeutete Behauptung rechtfertigen, daß
das Verhältniß der alten Jurisprudenz zu dem Geſetz keines-
wegs das einer rückhaltsloſen Unterordnung unter den Buch-
ſtaben deſſelben war, wie das Weſen der ſtrengen Wortinterpre-
tation es mit ſich bringt, ſondern ich möchte faſt ſagen, ein
freieres, als es unſere heutige Jurisprudenz einnimmt. Denn
ſie beſchied ſich nicht bloß aus zulegen, ſondern ſie legte unter,
ſie drehte und deutete das Geſetz, wie ſie es haben wollte, ſie
ſtellte ſich, wenn auch der Form nach unter, doch der Sache
nach über das Geſetz. Daß manche ihrer Auslegungen weder
den Worten, noch dem Sinn des Geſetzes entſprachen, daß ſie
mit den Worten des Geſetzes hie und da geradezu ein Spiel
trieb, das kann ſie ſich ſelbſt unmöglich verhehlt haben. Nicht
die Frage nach der Richtigkeit der Auslegung, ſei es der
bloßen Worte, ſei es des legislativen Gedankens, entſchied über
die Annahme oder Verwerfung derſelben, ſondern die Frage von
der praktiſchen Angemeſſenheit derſelben. Oder hätten in
der That die alten Juriſten ſo blöden Auges ſein ſollen, daß ſie
nicht geſehen, auf wie ſchwachen Füßen ſo manche von ihren
Auslegungen ſtand? Sie wollten es nicht ſehen, es war
Sache einer ſtillſchweigenden Convention, es mit dem, was
Noth that, rückſichtlich der Gründe nicht ſo genau zu nehmen.
Das praktiſche Bedürfniß, das Intereſſe der juriſtiſchen Kunſt,
kurz Rückſichten, die der Auslegung als ſolcher fremd ſind, ſaßen
bei der Auslegung des Geſetzes mit zu Rathe, und die Ueber-
zeugung von dem innern Werth der aufgeſtellten Anſicht be-
ruhigte das Gewiſſen des Exegeten über die Schwäche ihrer äuße-
ren Begründung. Als die Zeit es mit ſich brachte, für die Er-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/195>, abgerufen am 16.02.2025.
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