Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zum richtigen Verständniß der so auffälligen Interpretation der lex Atilia (S. 483 unten) muß man sich erinnern, daß die Vormundschaft im älteren Recht einen ganz andern Charakter an sich trug, als in unserm heutigen. Die heutige Vormundschaft ist ausschließlich eine Schutzanstalt im Interesse des Mündels, die altrömische war zugleich ein Recht des Vormundes. Ging die patria potestas, die doch nicht minder als die Tutel den Beruf zur Erziehung und zum Schutz der ihr unterworfenen Personen in sich schloß, durch Wahnsinn und sonstige Unfähig- keit des Vaters zur Erfüllung dieses Berufes nicht unter, eben weil sie ein Recht war (so wenig wie in gleichem Falle die manus des Mannes über seine Frau), so konnte man dasselbe auch bei der Tutel gelten lassen, und wir sind daher nicht zu der Annahme genöthigt, als ob man bloß aus Rücksichten der Wortinterpretation sich einen Rechtssatz hätte gefallen lassen, den man im übrigen für verkehrt hielt. Daß derselbe später auf- gehoben ward, spricht nicht dagegen, denn es hängt mit dem Umschwung in der ganzen Auffassung der Vormundschaft zu- sammen.
Mit dem letzten der obigen Beispiele, dem Satz über den Verkauf des Sohnes hat es dieselbe Bewandniß, wie mit der Ausschließung der successio graduum et ordinum d. h. man urgirte absichtlich das Wort, um die Bestimmung, die es ent- hält, möglichst einzuschränken; die Wortinterpretation war eine tendentiöse. Dem Verkaufsrecht des Vaters war schon zur Zeit der Zwölf Tafeln das bessere Gefühl des Volks abhold, die Beschränkung, der das Gesetz dies Recht unterwarf, legt davon Zeugniß ab. Unter dem Einfluß derselben Stimmung schränkte nun die Jurisprudenz die Bestimmung des Gesetzes auf den Sohn ein und ließ -- und darin eben liegt der unwidersprech- liche Beweis der Tendenz -- Töchter und Kinder durch ein- maligen Verkauf von der Gewalt frei werden. Hätte man unbefangen verfahren wollen, so hätte der Schluß nicht so gelautet: weil das Gesetz nur den Sohn nennt, so werden
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zum richtigen Verſtändniß der ſo auffälligen Interpretation der lex Atilia (S. 483 unten) muß man ſich erinnern, daß die Vormundſchaft im älteren Recht einen ganz andern Charakter an ſich trug, als in unſerm heutigen. Die heutige Vormundſchaft iſt ausſchließlich eine Schutzanſtalt im Intereſſe des Mündels, die altrömiſche war zugleich ein Recht des Vormundes. Ging die patria potestas, die doch nicht minder als die Tutel den Beruf zur Erziehung und zum Schutz der ihr unterworfenen Perſonen in ſich ſchloß, durch Wahnſinn und ſonſtige Unfähig- keit des Vaters zur Erfüllung dieſes Berufes nicht unter, eben weil ſie ein Recht war (ſo wenig wie in gleichem Falle die manus des Mannes über ſeine Frau), ſo konnte man daſſelbe auch bei der Tutel gelten laſſen, und wir ſind daher nicht zu der Annahme genöthigt, als ob man bloß aus Rückſichten der Wortinterpretation ſich einen Rechtsſatz hätte gefallen laſſen, den man im übrigen für verkehrt hielt. Daß derſelbe ſpäter auf- gehoben ward, ſpricht nicht dagegen, denn es hängt mit dem Umſchwung in der ganzen Auffaſſung der Vormundſchaft zu- ſammen.
Mit dem letzten der obigen Beiſpiele, dem Satz über den Verkauf des Sohnes hat es dieſelbe Bewandniß, wie mit der Ausſchließung der successio graduum et ordinum d. h. man urgirte abſichtlich das Wort, um die Beſtimmung, die es ent- hält, möglichſt einzuſchränken; die Wortinterpretation war eine tendentiöſe. Dem Verkaufsrecht des Vaters war ſchon zur Zeit der Zwölf Tafeln das beſſere Gefühl des Volks abhold, die Beſchränkung, der das Geſetz dies Recht unterwarf, legt davon Zeugniß ab. Unter dem Einfluß derſelben Stimmung ſchränkte nun die Jurisprudenz die Beſtimmung des Geſetzes auf den Sohn ein und ließ — und darin eben liegt der unwiderſprech- liche Beweis der Tendenz — Töchter und Kinder durch ein- maligen Verkauf von der Gewalt frei werden. Hätte man unbefangen verfahren wollen, ſo hätte der Schluß nicht ſo gelautet: weil das Geſetz nur den Sohn nennt, ſo werden
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zum richtigen Verſtändniß der ſo auffälligen Interpretation
der lex Atilia (S. 483 unten) muß man ſich erinnern, daß die
Vormundſchaft im älteren Recht einen ganz andern Charakter an
ſich trug, als in unſerm heutigen. Die heutige Vormundſchaft
iſt ausſchließlich eine Schutzanſtalt im Intereſſe des Mündels,
die altrömiſche war zugleich ein Recht des Vormundes. Ging
die patria potestas, die doch nicht minder als die Tutel den
Beruf zur Erziehung und zum Schutz der ihr unterworfenen
Perſonen in ſich ſchloß, durch Wahnſinn und ſonſtige Unfähig-
keit des Vaters zur Erfüllung dieſes Berufes nicht unter, eben
weil ſie ein Recht war (ſo wenig wie in gleichem Falle die
manus des Mannes über ſeine Frau), ſo konnte man daſſelbe
auch bei der Tutel gelten laſſen, und wir ſind daher nicht zu
der Annahme genöthigt, als ob man bloß aus Rückſichten der
Wortinterpretation ſich einen Rechtsſatz hätte gefallen laſſen,
den man im übrigen für verkehrt hielt. Daß derſelbe ſpäter auf-
gehoben ward, ſpricht nicht dagegen, denn es hängt mit dem
Umſchwung in der ganzen Auffaſſung der Vormundſchaft zu-
ſammen.
Mit dem letzten der obigen Beiſpiele, dem Satz über den
Verkauf des Sohnes hat es dieſelbe Bewandniß, wie mit der
Ausſchließung der successio graduum et ordinum d. h. man
urgirte abſichtlich das Wort, um die Beſtimmung, die es ent-
hält, möglichſt einzuſchränken; die Wortinterpretation war eine
tendentiöſe. Dem Verkaufsrecht des Vaters war ſchon zur
Zeit der Zwölf Tafeln das beſſere Gefühl des Volks abhold, die
Beſchränkung, der das Geſetz dies Recht unterwarf, legt davon
Zeugniß ab. Unter dem Einfluß derſelben Stimmung ſchränkte
nun die Jurisprudenz die Beſtimmung des Geſetzes auf den
Sohn ein und ließ — und darin eben liegt der unwiderſprech-
liche Beweis der Tendenz — Töchter und Kinder durch ein-
maligen Verkauf von der Gewalt frei werden. Hätte man
unbefangen verfahren wollen, ſo hätte der Schluß nicht ſo
gelautet: weil das Geſetz nur den Sohn nennt, ſo werden
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/194>, abgerufen am 22.11.2024.
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