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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
das moralische Ansehn des Gesetzes verstärkt, von großer Be-
deutung. Denn besteht jene Selbständigkeit darin, daß das
Recht den unrechtmäßigen Gelüsten des Lebens einen Damm
entgegenstellt, so ist die Widerstandskraft eines alten Gesetzes
ungleich höher, als die eines neuen. Wie die physische Kraft
des Menschen nach den Altersstufen verschieden ist, so auch die
moralische Kraft der Gesetze; eine andere ist sie im Kindes-,
eine andere im Mannesalter. Wo die Gesetze bald nach der
Geburt hinzusiechen pflegen -- weil diese Geburt selbst eine
verfrühte oder eine zu leichte war -- können sie nicht die Ach-
tung gebietende Stellung einnehmen, als wo sie sich einer dauer-
haften Constitution erfreuten und noch in ferne Zeiten wie ein
ehrwürdiges Stück Geschichte des Volks hineinragen. An
ihnen wagt die Willkühr nicht so leicht zu rütteln, denn mit ih-
nen, die wie feste Eichen ihre Wurzeln in alle Verhältnisse hin-
eingetrieben, aufs innigste mit dem Boden der gesammten na-
tionalen Ansicht und Sittlichkeit verwachsen sind, würde sie die-
sen Boden selbst erschüttern, während die jungen Setzlinge neuer
Gesetze noch sehr lose mit diesem Boden zusammenhängen.

Die Zwölf Tafeln, die die Grundlage des gegenwärtigen
Systems bilden, liefern uns ein höchst lehrreiches Beispiel der
Dauerhaftigkeit der Gesetze und sind ganz geeignet, um diese
Lehre an ihnen zu studieren, insofern nämlich alle Gesichts-
punkte, die für diese Frage von einiger Bedeutung sind, in der
Geschichte des Zwölftafeln-Gesetzes hervortreten. Die Dauer-
haftigkeit dieses Gesetzes im allgemeinen ist so bekannt, daß ich
darüber nichts zu bemerken brauche.53) Dagegen fordern aber
die Gründe dieser Dauerhaftigkeit sowie die Bedeutung, die sie

53) Livius sagt in der bekannten Stelle III. 34 von diesem Gesetz: qui
nunc quoque in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum
cumulo fons omnis publici privatique est juris
. Noch zu Ciceros Jugend-
zeit pflegten die Knaben die Zwölf Tafeln auswendig zu lernen (de legib. II.
23), und die klassischen Juristen schrieben noch zwei Jahrhunderte später
Commentare zu denselben.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
das moraliſche Anſehn des Geſetzes verſtärkt, von großer Be-
deutung. Denn beſteht jene Selbſtändigkeit darin, daß das
Recht den unrechtmäßigen Gelüſten des Lebens einen Damm
entgegenſtellt, ſo iſt die Widerſtandskraft eines alten Geſetzes
ungleich höher, als die eines neuen. Wie die phyſiſche Kraft
des Menſchen nach den Altersſtufen verſchieden iſt, ſo auch die
moraliſche Kraft der Geſetze; eine andere iſt ſie im Kindes-,
eine andere im Mannesalter. Wo die Geſetze bald nach der
Geburt hinzuſiechen pflegen — weil dieſe Geburt ſelbſt eine
verfrühte oder eine zu leichte war — können ſie nicht die Ach-
tung gebietende Stellung einnehmen, als wo ſie ſich einer dauer-
haften Conſtitution erfreuten und noch in ferne Zeiten wie ein
ehrwürdiges Stück Geſchichte des Volks hineinragen. An
ihnen wagt die Willkühr nicht ſo leicht zu rütteln, denn mit ih-
nen, die wie feſte Eichen ihre Wurzeln in alle Verhältniſſe hin-
eingetrieben, aufs innigſte mit dem Boden der geſammten na-
tionalen Anſicht und Sittlichkeit verwachſen ſind, würde ſie die-
ſen Boden ſelbſt erſchüttern, während die jungen Setzlinge neuer
Geſetze noch ſehr loſe mit dieſem Boden zuſammenhängen.

Die Zwölf Tafeln, die die Grundlage des gegenwärtigen
Syſtems bilden, liefern uns ein höchſt lehrreiches Beiſpiel der
Dauerhaftigkeit der Geſetze und ſind ganz geeignet, um dieſe
Lehre an ihnen zu ſtudieren, inſofern nämlich alle Geſichts-
punkte, die für dieſe Frage von einiger Bedeutung ſind, in der
Geſchichte des Zwölftafeln-Geſetzes hervortreten. Die Dauer-
haftigkeit dieſes Geſetzes im allgemeinen iſt ſo bekannt, daß ich
darüber nichts zu bemerken brauche.53) Dagegen fordern aber
die Gründe dieſer Dauerhaftigkeit ſowie die Bedeutung, die ſie

53) Livius ſagt in der bekannten Stelle III. 34 von dieſem Geſetz: qui
nunc quoque in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum
cumulo fons omnis publici privatique est juris
. Noch zu Ciceros Jugend-
zeit pflegten die Knaben die Zwölf Tafeln auswendig zu lernen (de legib. II.
23), und die klaſſiſchen Juriſten ſchrieben noch zwei Jahrhunderte ſpäter
Commentare zu denſelben.
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[64/0078] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. das moraliſche Anſehn des Geſetzes verſtärkt, von großer Be- deutung. Denn beſteht jene Selbſtändigkeit darin, daß das Recht den unrechtmäßigen Gelüſten des Lebens einen Damm entgegenſtellt, ſo iſt die Widerſtandskraft eines alten Geſetzes ungleich höher, als die eines neuen. Wie die phyſiſche Kraft des Menſchen nach den Altersſtufen verſchieden iſt, ſo auch die moraliſche Kraft der Geſetze; eine andere iſt ſie im Kindes-, eine andere im Mannesalter. Wo die Geſetze bald nach der Geburt hinzuſiechen pflegen — weil dieſe Geburt ſelbſt eine verfrühte oder eine zu leichte war — können ſie nicht die Ach- tung gebietende Stellung einnehmen, als wo ſie ſich einer dauer- haften Conſtitution erfreuten und noch in ferne Zeiten wie ein ehrwürdiges Stück Geſchichte des Volks hineinragen. An ihnen wagt die Willkühr nicht ſo leicht zu rütteln, denn mit ih- nen, die wie feſte Eichen ihre Wurzeln in alle Verhältniſſe hin- eingetrieben, aufs innigſte mit dem Boden der geſammten na- tionalen Anſicht und Sittlichkeit verwachſen ſind, würde ſie die- ſen Boden ſelbſt erſchüttern, während die jungen Setzlinge neuer Geſetze noch ſehr loſe mit dieſem Boden zuſammenhängen. Die Zwölf Tafeln, die die Grundlage des gegenwärtigen Syſtems bilden, liefern uns ein höchſt lehrreiches Beiſpiel der Dauerhaftigkeit der Geſetze und ſind ganz geeignet, um dieſe Lehre an ihnen zu ſtudieren, inſofern nämlich alle Geſichts- punkte, die für dieſe Frage von einiger Bedeutung ſind, in der Geſchichte des Zwölftafeln-Geſetzes hervortreten. Die Dauer- haftigkeit dieſes Geſetzes im allgemeinen iſt ſo bekannt, daß ich darüber nichts zu bemerken brauche. 53) Dagegen fordern aber die Gründe dieſer Dauerhaftigkeit ſowie die Bedeutung, die ſie 53) Livius ſagt in der bekannten Stelle III. 34 von dieſem Geſetz: qui nunc quoque in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum cumulo fons omnis publici privatique est juris. Noch zu Ciceros Jugend- zeit pflegten die Knaben die Zwölf Tafeln auswendig zu lernen (de legib. II. 23), und die klaſſiſchen Juriſten ſchrieben noch zwei Jahrhunderte ſpäter Commentare zu denſelben.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/78>, abgerufen am 22.11.2024.