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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 3. Selbsterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
telt das lästige Joch ab. Es ist ja so leicht und natürlich ein
Gesetz durch das andere zu beseitigen oder zu ändern, und es
wäre ja thöricht, eine Last zu tragen, deren man sich entledigen
kann! Das ist leider eine heutzutage sehr verbreitete Anschauung;
in Gesetzen, die anfangen drückend zu werden, sieht man nicht,
wie der Römer und Engländer, einen alten Freund, von dem
man höchst ungern sich trennt, den man daher so lange wie
möglich zu ertragen sucht, sondern einen Diener, den man ange-
stellt hat, weil man ihn braucht, und den man entläßt, wenn
man seiner überdrüßig geworden ist. Mit dieser nach Volk und
Zeit verschiedenen Geneigtheit, sich unbequem gewordener Ge-
setze zu entledigen, hängt eine Verschiedenheit des moralischen
Ansehns, dessen das Recht bei dem Volk und in der Zeit sich er-
freut, inniger zusammen, als man glaubt. Das Verhältniß des
Volks zu seinen Gesetzen ist eine Ehe;51) wo sie beim ersten
Zerwürfniß gelöst wird, da kann das Verhältniß kein inniges
gewesen sein, da ist dies ein Zeichen, daß das Recht selbst keine
große Macht über die Gemüther ausübt. Wo aber das Recht
dieser Macht sich erfreut, wird man auch die bestehenden Gesetze
mit Liebe pflegen und dulden und zur Scheidung sich nur im
äußersten Fall entschließen.

Die Dauerhaftigkeit der Gesetze steht nun mit der intensiven
Kraft, die der Gedanke des Rechts über das Gemüth eines
Volks ausübt, in inniger Wechselwirkung d. h. sie hat in ihr
ihren Grund, aber sie wirkt auch auf sie zurück, sowie umgekehrt
dasselbe von der Hinfälligkeit der Gesetze gilt.52) Für die Selb-
ständigkeit des Rechts ist jene Dauerhaftigkeit, eben weil sie

51) In der ältern Rechtssprache bezeichnet Ehe (Bund) bekanntlich das
Recht selbst, aber an ein dadurch ausgedrücktes sittliches Verhältniß ist wohl
weniger zu denken, als an die bindende Kraft des Rechts, ähnlich wie bei jus
s. B. 1 S. 204.
52) Aus den Mortalitätstabellen und der mittleren Lebensdauer der Ge-
setze ließe sich also, von besondern Verhältnissen abgesehen, ein Schluß auf
die moralische, dem Recht innewohnende Kraft machen.

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
telt das läſtige Joch ab. Es iſt ja ſo leicht und natürlich ein
Geſetz durch das andere zu beſeitigen oder zu ändern, und es
wäre ja thöricht, eine Laſt zu tragen, deren man ſich entledigen
kann! Das iſt leider eine heutzutage ſehr verbreitete Anſchauung;
in Geſetzen, die anfangen drückend zu werden, ſieht man nicht,
wie der Römer und Engländer, einen alten Freund, von dem
man höchſt ungern ſich trennt, den man daher ſo lange wie
möglich zu ertragen ſucht, ſondern einen Diener, den man ange-
ſtellt hat, weil man ihn braucht, und den man entläßt, wenn
man ſeiner überdrüßig geworden iſt. Mit dieſer nach Volk und
Zeit verſchiedenen Geneigtheit, ſich unbequem gewordener Ge-
ſetze zu entledigen, hängt eine Verſchiedenheit des moraliſchen
Anſehns, deſſen das Recht bei dem Volk und in der Zeit ſich er-
freut, inniger zuſammen, als man glaubt. Das Verhältniß des
Volks zu ſeinen Geſetzen iſt eine Ehe;51) wo ſie beim erſten
Zerwürfniß gelöſt wird, da kann das Verhältniß kein inniges
geweſen ſein, da iſt dies ein Zeichen, daß das Recht ſelbſt keine
große Macht über die Gemüther ausübt. Wo aber das Recht
dieſer Macht ſich erfreut, wird man auch die beſtehenden Geſetze
mit Liebe pflegen und dulden und zur Scheidung ſich nur im
äußerſten Fall entſchließen.

Die Dauerhaftigkeit der Geſetze ſteht nun mit der intenſiven
Kraft, die der Gedanke des Rechts über das Gemüth eines
Volks ausübt, in inniger Wechſelwirkung d. h. ſie hat in ihr
ihren Grund, aber ſie wirkt auch auf ſie zurück, ſowie umgekehrt
daſſelbe von der Hinfälligkeit der Geſetze gilt.52) Für die Selb-
ſtändigkeit des Rechts iſt jene Dauerhaftigkeit, eben weil ſie

51) In der ältern Rechtsſprache bezeichnet Ehe (Bund) bekanntlich das
Recht ſelbſt, aber an ein dadurch ausgedrücktes ſittliches Verhältniß iſt wohl
weniger zu denken, als an die bindende Kraft des Rechts, ähnlich wie bei jus
ſ. B. 1 S. 204.
52) Aus den Mortalitätstabellen und der mittleren Lebensdauer der Ge-
ſetze ließe ſich alſo, von beſondern Verhältniſſen abgeſehen, ein Schluß auf
die moraliſche, dem Recht innewohnende Kraft machen.
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[63/0077] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27. telt das läſtige Joch ab. Es iſt ja ſo leicht und natürlich ein Geſetz durch das andere zu beſeitigen oder zu ändern, und es wäre ja thöricht, eine Laſt zu tragen, deren man ſich entledigen kann! Das iſt leider eine heutzutage ſehr verbreitete Anſchauung; in Geſetzen, die anfangen drückend zu werden, ſieht man nicht, wie der Römer und Engländer, einen alten Freund, von dem man höchſt ungern ſich trennt, den man daher ſo lange wie möglich zu ertragen ſucht, ſondern einen Diener, den man ange- ſtellt hat, weil man ihn braucht, und den man entläßt, wenn man ſeiner überdrüßig geworden iſt. Mit dieſer nach Volk und Zeit verſchiedenen Geneigtheit, ſich unbequem gewordener Ge- ſetze zu entledigen, hängt eine Verſchiedenheit des moraliſchen Anſehns, deſſen das Recht bei dem Volk und in der Zeit ſich er- freut, inniger zuſammen, als man glaubt. Das Verhältniß des Volks zu ſeinen Geſetzen iſt eine Ehe; 51) wo ſie beim erſten Zerwürfniß gelöſt wird, da kann das Verhältniß kein inniges geweſen ſein, da iſt dies ein Zeichen, daß das Recht ſelbſt keine große Macht über die Gemüther ausübt. Wo aber das Recht dieſer Macht ſich erfreut, wird man auch die beſtehenden Geſetze mit Liebe pflegen und dulden und zur Scheidung ſich nur im äußerſten Fall entſchließen. Die Dauerhaftigkeit der Geſetze ſteht nun mit der intenſiven Kraft, die der Gedanke des Rechts über das Gemüth eines Volks ausübt, in inniger Wechſelwirkung d. h. ſie hat in ihr ihren Grund, aber ſie wirkt auch auf ſie zurück, ſowie umgekehrt daſſelbe von der Hinfälligkeit der Geſetze gilt. 52) Für die Selb- ſtändigkeit des Rechts iſt jene Dauerhaftigkeit, eben weil ſie 51) In der ältern Rechtsſprache bezeichnet Ehe (Bund) bekanntlich das Recht ſelbſt, aber an ein dadurch ausgedrücktes ſittliches Verhältniß iſt wohl weniger zu denken, als an die bindende Kraft des Rechts, ähnlich wie bei jus ſ. B. 1 S. 204. 52) Aus den Mortalitätstabellen und der mittleren Lebensdauer der Ge- ſetze ließe ſich alſo, von beſondern Verhältniſſen abgeſehen, ein Schluß auf die moraliſche, dem Recht innewohnende Kraft machen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/77>, abgerufen am 22.11.2024.