Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe. verlegt. Nach wie vor sollte die Ehe heilig gehalten werden,sollte der Vater sich der Grausamkeiten gegen seine Kinder ent- halten, der Eigenthümer mit Maß und mit der seiner Familie schuldigen Rücksicht sich seines Eigenthums bedienen. Aber nur als sittliche, durch das öffentliche Organ des Censors an ihn gerichtete Anforderung ward diese Erwartung ausgesprochen; das Recht erkannte ihm die Freiheit zu, das Gegentheil zu thun. Die außerordentliche Ausdehnung, die man dieser rechtlichen Freiheit gegeben (S. darüber §. 30), zeigt das große sittliche Selbstvertrauen der Zeit. Man könnte darin auch umgekehrt den sittlichen Indifferentismus des Volks erblicken wollen, allein schon ein Blick auf die Censur sollte diese Deutung unmöglich machen, denn die Censur beweist ja ganz schlagend, welches In- teresse der Staat an der Sittlichkeit nahm. Wenn letzterer trotz- dem der rechtlichen Freiheit einen so ungewöhnlich weiten Spielraum anwies, so berechtigt dies zu dem Schlusse, den das ältere Leben uns bestätigt, daß er dies konnte d. h. daß die Zeit sittliche Kraft genug besaß, um jene Freiheit mit Mäßigung zu benutzen, und dem etwaigen Mißbrauch durch die Note des Censors hinlänglich gesteuert werden konnte. Später mußte dies durch gesetzliche Beschränkungen geschehen, und diese Verschie- denheit des Mittels, dessen die frühere und die spätere Zeit sich zu demselben Zweck bediente, ist für beide ganz charakteri- stisch. Der positive Charakter der Censur als Beschirmerin und Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. verlegt. Nach wie vor ſollte die Ehe heilig gehalten werden,ſollte der Vater ſich der Grauſamkeiten gegen ſeine Kinder ent- halten, der Eigenthümer mit Maß und mit der ſeiner Familie ſchuldigen Rückſicht ſich ſeines Eigenthums bedienen. Aber nur als ſittliche, durch das öffentliche Organ des Cenſors an ihn gerichtete Anforderung ward dieſe Erwartung ausgeſprochen; das Recht erkannte ihm die Freiheit zu, das Gegentheil zu thun. Die außerordentliche Ausdehnung, die man dieſer rechtlichen Freiheit gegeben (S. darüber §. 30), zeigt das große ſittliche Selbſtvertrauen der Zeit. Man könnte darin auch umgekehrt den ſittlichen Indifferentismus des Volks erblicken wollen, allein ſchon ein Blick auf die Cenſur ſollte dieſe Deutung unmöglich machen, denn die Cenſur beweiſt ja ganz ſchlagend, welches In- tereſſe der Staat an der Sittlichkeit nahm. Wenn letzterer trotz- dem der rechtlichen Freiheit einen ſo ungewöhnlich weiten Spielraum anwies, ſo berechtigt dies zu dem Schluſſe, den das ältere Leben uns beſtätigt, daß er dies konnte d. h. daß die Zeit ſittliche Kraft genug beſaß, um jene Freiheit mit Mäßigung zu benutzen, und dem etwaigen Mißbrauch durch die Note des Cenſors hinlänglich geſteuert werden konnte. Später mußte dies durch geſetzliche Beſchränkungen geſchehen, und dieſe Verſchie- denheit des Mittels, deſſen die frühere und die ſpätere Zeit ſich zu demſelben Zweck bediente, iſt für beide ganz charakteri- ſtiſch. Der poſitive Charakter der Cenſur als Beſchirmerin und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0066" n="52"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/> verlegt. Nach wie vor ſollte die Ehe heilig gehalten werden,<lb/> ſollte der Vater ſich der Grauſamkeiten gegen ſeine Kinder ent-<lb/> halten, der Eigenthümer mit Maß und mit der ſeiner Familie<lb/> ſchuldigen Rückſicht ſich ſeines Eigenthums bedienen. Aber nur<lb/> als ſittliche, durch das öffentliche Organ des Cenſors an ihn<lb/> gerichtete Anforderung ward dieſe Erwartung ausgeſprochen;<lb/> das Recht erkannte ihm die Freiheit zu, das Gegentheil zu thun.<lb/> Die außerordentliche Ausdehnung, die man dieſer rechtlichen<lb/> Freiheit gegeben (S. darüber §. 30), zeigt das große ſittliche<lb/> Selbſtvertrauen der Zeit. Man könnte darin auch umgekehrt<lb/> den ſittlichen Indifferentismus des Volks erblicken wollen, allein<lb/> ſchon ein Blick auf die Cenſur ſollte dieſe Deutung unmöglich<lb/> machen, denn die Cenſur beweiſt ja ganz ſchlagend, welches In-<lb/> tereſſe der Staat an der Sittlichkeit nahm. Wenn letzterer trotz-<lb/> dem der <hi rendition="#g">rechtlichen</hi> Freiheit einen ſo ungewöhnlich weiten<lb/> Spielraum anwies, ſo berechtigt dies zu dem Schluſſe, den das<lb/> ältere Leben uns beſtätigt, daß er dies <hi rendition="#g">konnte</hi> d. h. daß die<lb/> Zeit ſittliche Kraft genug beſaß, um jene Freiheit mit Mäßigung<lb/> zu benutzen, und dem etwaigen Mißbrauch durch die Note des<lb/> Cenſors hinlänglich geſteuert werden konnte. Später mußte dies<lb/> durch geſetzliche Beſchränkungen geſchehen, und dieſe Verſchie-<lb/> denheit des Mittels, deſſen die frühere und die ſpätere Zeit<lb/> ſich zu demſelben Zweck bediente, iſt für beide ganz charakteri-<lb/> ſtiſch.</p><lb/> <p>Der poſitive Charakter der Cenſur als Beſchirmerin und<lb/> Pflegerin der Sitte und ihr negativer Charakter, ihre Gegen-<lb/> ſätzlichkeit zum Recht, iſt nun in der ganzen Structur des In-<lb/> ſtituts feſtgehalten. Das Recht iſt feſt und geſchrieben, die<lb/> Sitte und das ihr zu Grunde liegende ſittliche Gefühl iſt flü-<lb/> ßig, und darum äußert ſich jener Trieb, der ſonſt in ſo hohem<lb/> Grade in der römiſchen Welt hervortritt, der Trieb nach Feſtig-<lb/> keit, Beſtimmtheit, alſo bei Normen, die im Leben zur Anwen-<lb/> dung kamen, nach Aufzeichnung, nicht auf dem Gebiete der cen-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [52/0066]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
verlegt. Nach wie vor ſollte die Ehe heilig gehalten werden,
ſollte der Vater ſich der Grauſamkeiten gegen ſeine Kinder ent-
halten, der Eigenthümer mit Maß und mit der ſeiner Familie
ſchuldigen Rückſicht ſich ſeines Eigenthums bedienen. Aber nur
als ſittliche, durch das öffentliche Organ des Cenſors an ihn
gerichtete Anforderung ward dieſe Erwartung ausgeſprochen;
das Recht erkannte ihm die Freiheit zu, das Gegentheil zu thun.
Die außerordentliche Ausdehnung, die man dieſer rechtlichen
Freiheit gegeben (S. darüber §. 30), zeigt das große ſittliche
Selbſtvertrauen der Zeit. Man könnte darin auch umgekehrt
den ſittlichen Indifferentismus des Volks erblicken wollen, allein
ſchon ein Blick auf die Cenſur ſollte dieſe Deutung unmöglich
machen, denn die Cenſur beweiſt ja ganz ſchlagend, welches In-
tereſſe der Staat an der Sittlichkeit nahm. Wenn letzterer trotz-
dem der rechtlichen Freiheit einen ſo ungewöhnlich weiten
Spielraum anwies, ſo berechtigt dies zu dem Schluſſe, den das
ältere Leben uns beſtätigt, daß er dies konnte d. h. daß die
Zeit ſittliche Kraft genug beſaß, um jene Freiheit mit Mäßigung
zu benutzen, und dem etwaigen Mißbrauch durch die Note des
Cenſors hinlänglich geſteuert werden konnte. Später mußte dies
durch geſetzliche Beſchränkungen geſchehen, und dieſe Verſchie-
denheit des Mittels, deſſen die frühere und die ſpätere Zeit
ſich zu demſelben Zweck bediente, iſt für beide ganz charakteri-
ſtiſch.
Der poſitive Charakter der Cenſur als Beſchirmerin und
Pflegerin der Sitte und ihr negativer Charakter, ihre Gegen-
ſätzlichkeit zum Recht, iſt nun in der ganzen Structur des In-
ſtituts feſtgehalten. Das Recht iſt feſt und geſchrieben, die
Sitte und das ihr zu Grunde liegende ſittliche Gefühl iſt flü-
ßig, und darum äußert ſich jener Trieb, der ſonſt in ſo hohem
Grade in der römiſchen Welt hervortritt, der Trieb nach Feſtig-
keit, Beſtimmtheit, alſo bei Normen, die im Leben zur Anwen-
dung kamen, nach Aufzeichnung, nicht auf dem Gebiete der cen-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |