Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
sehr hohe, aber trotzdem bestand zwischen der Sitte und dem
Recht eine unübersteigliche Scheidewand, und ein Institut der
Sitte (quod in facto consistit, magis facti quam juris est)
konnte nur durch ein Gesetz, nicht aber, was ja das Wesen des
Gewohnheitsrechts ausmacht, durch sich selbst und aus eigner
Autorität rechtliche Existenz erlangen. Es ist mir kein Beispiel
einer gewohnheitsrechtlichen Bildung aus dieser Periode be-
kannt, während umgekehrt die meisten wichtigen Aenderungen
im Civilrecht wie im Prozeß sich auf Gesetze zurückführen lassen.
Allerdings gab es eine reichhaltige Quelle der Rechtsbildung
neben dem Gesetz, die interpretatio (§. 27), aber sie stellte sich
nicht als selbständige Production außer und über, sondern
als bloße Entwicklung des Gesetzes unter dasselbe. Wir wis-
sen, daß sie manchen Rechtssätzen das Leben gab, die im Gesetz
nicht enthalten waren, daß materiell also hier eine Art gewohn-
heitsrechtlicher Bildung Statt fand, aber formell und nach An-
sicht der Römer prätendirte sie dies nicht, sondern stützte sich
und ihre Resultate auf das Gesetz selbst, fügte sich dem Sy-
stem des geschriebenen Rechts als Ergänzung und Erläute-
rung ein.

Ich fürchte kaum, daß man meiner Ansicht den Vorwurf in-
nerlicher Unwahrscheinlichkeit mache, in dem Sinne nämlich,
daß ja die strenge Festhaltung des Systems des geschriebenen
Rechts dem Verkehr eine Fessel auferlegt, ihn in seiner freien
Bewegung gehemmt hätte. Denn für alle Verhältnisse, die der
Autonomie zugänglich waren, bot das Prinzip der Autonomie, das
im ältern Recht im ausgedehntesten Maße Anerkennung gefun-
den, eine ausreichende Hülfe; hinsichtlich anderer Verhältnisse
aber sorgte theils die Interpretatio, theils die Gesetzgebung,
die ja, wenn irgendwo, so im ältern Rom, mit den Interessen
des Volks und Lebens völlig vertraut und ihnen dienstbar war,
für die Befriedigung etwaiger rechtlicher Bedürfnisse. Ist doch
eine solche ausschließliche Bestreitung des rechtlichen Verkehrs-
bedürfnisses mit Gesetzen auch anderwärts, wo die Verhältnisse

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſehr hohe, aber trotzdem beſtand zwiſchen der Sitte und dem
Recht eine unüberſteigliche Scheidewand, und ein Inſtitut der
Sitte (quod in facto consistit, magis facti quam juris est)
konnte nur durch ein Geſetz, nicht aber, was ja das Weſen des
Gewohnheitsrechts ausmacht, durch ſich ſelbſt und aus eigner
Autorität rechtliche Exiſtenz erlangen. Es iſt mir kein Beiſpiel
einer gewohnheitsrechtlichen Bildung aus dieſer Periode be-
kannt, während umgekehrt die meiſten wichtigen Aenderungen
im Civilrecht wie im Prozeß ſich auf Geſetze zurückführen laſſen.
Allerdings gab es eine reichhaltige Quelle der Rechtsbildung
neben dem Geſetz, die interpretatio (§. 27), aber ſie ſtellte ſich
nicht als ſelbſtändige Production außer und über, ſondern
als bloße Entwicklung des Geſetzes unter daſſelbe. Wir wiſ-
ſen, daß ſie manchen Rechtsſätzen das Leben gab, die im Geſetz
nicht enthalten waren, daß materiell alſo hier eine Art gewohn-
heitsrechtlicher Bildung Statt fand, aber formell und nach An-
ſicht der Römer prätendirte ſie dies nicht, ſondern ſtützte ſich
und ihre Reſultate auf das Geſetz ſelbſt, fügte ſich dem Sy-
ſtem des geſchriebenen Rechts als Ergänzung und Erläute-
rung ein.

Ich fürchte kaum, daß man meiner Anſicht den Vorwurf in-
nerlicher Unwahrſcheinlichkeit mache, in dem Sinne nämlich,
daß ja die ſtrenge Feſthaltung des Syſtems des geſchriebenen
Rechts dem Verkehr eine Feſſel auferlegt, ihn in ſeiner freien
Bewegung gehemmt hätte. Denn für alle Verhältniſſe, die der
Autonomie zugänglich waren, bot das Prinzip der Autonomie, das
im ältern Recht im ausgedehnteſten Maße Anerkennung gefun-
den, eine ausreichende Hülfe; hinſichtlich anderer Verhältniſſe
aber ſorgte theils die Interpretatio, theils die Geſetzgebung,
die ja, wenn irgendwo, ſo im ältern Rom, mit den Intereſſen
des Volks und Lebens völlig vertraut und ihnen dienſtbar war,
für die Befriedigung etwaiger rechtlicher Bedürfniſſe. Iſt doch
eine ſolche ausſchließliche Beſtreitung des rechtlichen Verkehrs-
bedürfniſſes mit Geſetzen auch anderwärts, wo die Verhältniſſe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0052" n="38"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/>
&#x017F;ehr hohe, aber trotzdem be&#x017F;tand zwi&#x017F;chen der Sitte und dem<lb/>
Recht eine unüber&#x017F;teigliche Scheidewand, und ein In&#x017F;titut der<lb/>
Sitte (<hi rendition="#aq">quod in facto consistit, magis facti quam juris est</hi>)<lb/>
konnte nur durch ein Ge&#x017F;etz, nicht aber, was ja das We&#x017F;en des<lb/>
Gewohnheitsrechts ausmacht, durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und aus eigner<lb/>
Autorität rechtliche Exi&#x017F;tenz erlangen. Es i&#x017F;t mir kein Bei&#x017F;piel<lb/>
einer gewohnheitsrechtlichen Bildung aus die&#x017F;er Periode be-<lb/>
kannt, während umgekehrt die mei&#x017F;ten wichtigen Aenderungen<lb/>
im Civilrecht wie im Prozeß &#x017F;ich auf Ge&#x017F;etze zurückführen la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Allerdings gab es eine reichhaltige Quelle der Rechtsbildung<lb/>
neben dem Ge&#x017F;etz, die <hi rendition="#aq">interpretatio</hi> (§. 27), aber &#x017F;ie &#x017F;tellte &#x017F;ich<lb/>
nicht als &#x017F;elb&#x017F;tändige Production <hi rendition="#g">außer und über</hi>, &#x017F;ondern<lb/>
als bloße Entwicklung des Ge&#x017F;etzes <hi rendition="#g">unter</hi> da&#x017F;&#x017F;elbe. Wir wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, daß &#x017F;ie manchen Rechts&#x017F;ätzen das Leben gab, die im Ge&#x017F;etz<lb/>
nicht enthalten waren, daß materiell al&#x017F;o hier eine Art gewohn-<lb/>
heitsrechtlicher Bildung Statt fand, aber formell und nach An-<lb/>
&#x017F;icht der Römer prätendirte &#x017F;ie dies nicht, &#x017F;ondern &#x017F;tützte &#x017F;ich<lb/>
und ihre Re&#x017F;ultate auf das Ge&#x017F;etz &#x017F;elb&#x017F;t, fügte &#x017F;ich dem Sy-<lb/>
&#x017F;tem des ge&#x017F;chriebenen Rechts als Ergänzung und Erläute-<lb/>
rung ein.</p><lb/>
                <p>Ich fürchte kaum, daß man meiner An&#x017F;icht den Vorwurf in-<lb/>
nerlicher Unwahr&#x017F;cheinlichkeit mache, in dem Sinne nämlich,<lb/>
daß ja die &#x017F;trenge Fe&#x017F;thaltung des Sy&#x017F;tems des ge&#x017F;chriebenen<lb/>
Rechts dem Verkehr eine Fe&#x017F;&#x017F;el auferlegt, ihn in &#x017F;einer freien<lb/>
Bewegung gehemmt hätte. Denn für alle Verhältni&#x017F;&#x017F;e, die der<lb/>
Autonomie zugänglich waren, bot das Prinzip der Autonomie, das<lb/>
im ältern Recht im ausgedehnte&#x017F;ten Maße Anerkennung gefun-<lb/>
den, eine ausreichende Hülfe; hin&#x017F;ichtlich anderer Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
aber &#x017F;orgte theils die <hi rendition="#aq">Interpretatio,</hi> theils die Ge&#x017F;etzgebung,<lb/>
die ja, wenn irgendwo, &#x017F;o im ältern Rom, mit den Intere&#x017F;&#x017F;en<lb/>
des Volks und Lebens völlig vertraut und ihnen dien&#x017F;tbar war,<lb/>
für die Befriedigung etwaiger rechtlicher Bedürfni&#x017F;&#x017F;e. I&#x017F;t doch<lb/>
eine &#x017F;olche aus&#x017F;chließliche Be&#x017F;treitung des rechtlichen Verkehrs-<lb/>
bedürfni&#x017F;&#x017F;es mit Ge&#x017F;etzen auch anderwärts, wo die Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0052] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ſehr hohe, aber trotzdem beſtand zwiſchen der Sitte und dem Recht eine unüberſteigliche Scheidewand, und ein Inſtitut der Sitte (quod in facto consistit, magis facti quam juris est) konnte nur durch ein Geſetz, nicht aber, was ja das Weſen des Gewohnheitsrechts ausmacht, durch ſich ſelbſt und aus eigner Autorität rechtliche Exiſtenz erlangen. Es iſt mir kein Beiſpiel einer gewohnheitsrechtlichen Bildung aus dieſer Periode be- kannt, während umgekehrt die meiſten wichtigen Aenderungen im Civilrecht wie im Prozeß ſich auf Geſetze zurückführen laſſen. Allerdings gab es eine reichhaltige Quelle der Rechtsbildung neben dem Geſetz, die interpretatio (§. 27), aber ſie ſtellte ſich nicht als ſelbſtändige Production außer und über, ſondern als bloße Entwicklung des Geſetzes unter daſſelbe. Wir wiſ- ſen, daß ſie manchen Rechtsſätzen das Leben gab, die im Geſetz nicht enthalten waren, daß materiell alſo hier eine Art gewohn- heitsrechtlicher Bildung Statt fand, aber formell und nach An- ſicht der Römer prätendirte ſie dies nicht, ſondern ſtützte ſich und ihre Reſultate auf das Geſetz ſelbſt, fügte ſich dem Sy- ſtem des geſchriebenen Rechts als Ergänzung und Erläute- rung ein. Ich fürchte kaum, daß man meiner Anſicht den Vorwurf in- nerlicher Unwahrſcheinlichkeit mache, in dem Sinne nämlich, daß ja die ſtrenge Feſthaltung des Syſtems des geſchriebenen Rechts dem Verkehr eine Feſſel auferlegt, ihn in ſeiner freien Bewegung gehemmt hätte. Denn für alle Verhältniſſe, die der Autonomie zugänglich waren, bot das Prinzip der Autonomie, das im ältern Recht im ausgedehnteſten Maße Anerkennung gefun- den, eine ausreichende Hülfe; hinſichtlich anderer Verhältniſſe aber ſorgte theils die Interpretatio, theils die Geſetzgebung, die ja, wenn irgendwo, ſo im ältern Rom, mit den Intereſſen des Volks und Lebens völlig vertraut und ihnen dienſtbar war, für die Befriedigung etwaiger rechtlicher Bedürfniſſe. Iſt doch eine ſolche ausſchließliche Beſtreitung des rechtlichen Verkehrs- bedürfniſſes mit Geſetzen auch anderwärts, wo die Verhältniſſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/52
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/52>, abgerufen am 24.11.2024.