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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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B. Stellung der Magistratur. -- Persönlichkeit des Beamten. §. 35.
dem wahren Wohl des Staats widerstreben würde, ausnahms-
weise zur Seite zu schieben -- sie überhob die Römer jener
traurigen Nothwendigkeit, in die wir heutzutage uns so oft ver-
setzt sehen, nämlich bei einem Conflikt zwischen den bestehenden
Gesetzen und der Noth des Augenblicks, dem Bedürfniß des
individuellen Falls zu Liebe entweder das Gesetz zu ändern oder
zu übertreten oder aber das Bedürfniß dem Gesetz zu opfern.
Wenn es uns bei der Schilderung der privatrechtlichen Verhält-
nisse vorzugsweise darum zu thun war zu zeigen, wie die Sitte
beschränkend auf die abstracte Freiheit einwirkte, so kam es
uns bei dem vorliegenden Gegenstand umgekehrt darauf an,
nachzuweisen, wie die Sitte trotz ihres beschränkenden Einflusses
immer doch noch der Freiheit einen großen Spielraum ließ.
Dort hat man nämlich ebenso sehr den Einfluß der Sitte zu
gering, wie hier zu hoch angeschlagen. Der Grund dieser Ver-
schiedenheit liegt in der Beschaffenheit unserer Quellen, näm-
lich in der Dürftigkeit derselben rücksichtlich des rein privat-
rechtlichen, der Reichhaltigkeit derselben rücksichtlich des öffent-
lichen Lebens. Die Juristen, die das Privatrecht behandelten,
schlossen das Element der Sitte mit vollem Recht von der Be-
trachtung aus. Wer aber das römische Staatsrecht darzustellen
hatte, konnte sich nicht in gleicher Weise auf den abstract-recht-
lichen Gesichtspunkt beschränken, sondern mußte das gesammte
öffentliche Leben zum Gegenstand der Darstellung machen.

Kurz das Staatsrecht war Geschichte und Statistik, das
Privatrecht eine abstracte Theorie. Für jenes besteht die Auf-
gabe darin, den Gesichtspunkt des abstracten Rechts nicht über
der Sitte -- für dieses, die Sitte nicht über dem abstracten
Recht zu übersehen.

Wir haben jetzt die einzelnen objektiven Momente, die zur
Charakteristik der Magistratur nöthig sind, kennen lernen: die
abstract-rechtliche Freiheit auf der einen, das Maß und die Art
ihrer Gebundenheit auf der andern Seite. Ein wesentliches
Moment zu dieser Charakteristik fehlt uns noch, es ist das rein

B. Stellung der Magiſtratur. — Perſönlichkeit des Beamten. §. 35.
dem wahren Wohl des Staats widerſtreben würde, ausnahms-
weiſe zur Seite zu ſchieben — ſie überhob die Römer jener
traurigen Nothwendigkeit, in die wir heutzutage uns ſo oft ver-
ſetzt ſehen, nämlich bei einem Conflikt zwiſchen den beſtehenden
Geſetzen und der Noth des Augenblicks, dem Bedürfniß des
individuellen Falls zu Liebe entweder das Geſetz zu ändern oder
zu übertreten oder aber das Bedürfniß dem Geſetz zu opfern.
Wenn es uns bei der Schilderung der privatrechtlichen Verhält-
niſſe vorzugsweiſe darum zu thun war zu zeigen, wie die Sitte
beſchränkend auf die abſtracte Freiheit einwirkte, ſo kam es
uns bei dem vorliegenden Gegenſtand umgekehrt darauf an,
nachzuweiſen, wie die Sitte trotz ihres beſchränkenden Einfluſſes
immer doch noch der Freiheit einen großen Spielraum ließ.
Dort hat man nämlich ebenſo ſehr den Einfluß der Sitte zu
gering, wie hier zu hoch angeſchlagen. Der Grund dieſer Ver-
ſchiedenheit liegt in der Beſchaffenheit unſerer Quellen, näm-
lich in der Dürftigkeit derſelben rückſichtlich des rein privat-
rechtlichen, der Reichhaltigkeit derſelben rückſichtlich des öffent-
lichen Lebens. Die Juriſten, die das Privatrecht behandelten,
ſchloſſen das Element der Sitte mit vollem Recht von der Be-
trachtung aus. Wer aber das römiſche Staatsrecht darzuſtellen
hatte, konnte ſich nicht in gleicher Weiſe auf den abſtract-recht-
lichen Geſichtspunkt beſchränken, ſondern mußte das geſammte
öffentliche Leben zum Gegenſtand der Darſtellung machen.

Kurz das Staatsrecht war Geſchichte und Statiſtik, das
Privatrecht eine abſtracte Theorie. Für jenes beſteht die Auf-
gabe darin, den Geſichtspunkt des abſtracten Rechts nicht über
der Sitte — für dieſes, die Sitte nicht über dem abſtracten
Recht zu überſehen.

Wir haben jetzt die einzelnen objektiven Momente, die zur
Charakteriſtik der Magiſtratur nöthig ſind, kennen lernen: die
abſtract-rechtliche Freiheit auf der einen, das Maß und die Art
ihrer Gebundenheit auf der andern Seite. Ein weſentliches
Moment zu dieſer Charakteriſtik fehlt uns noch, es iſt das rein

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[297/0311] B. Stellung der Magiſtratur. — Perſönlichkeit des Beamten. §. 35. dem wahren Wohl des Staats widerſtreben würde, ausnahms- weiſe zur Seite zu ſchieben — ſie überhob die Römer jener traurigen Nothwendigkeit, in die wir heutzutage uns ſo oft ver- ſetzt ſehen, nämlich bei einem Conflikt zwiſchen den beſtehenden Geſetzen und der Noth des Augenblicks, dem Bedürfniß des individuellen Falls zu Liebe entweder das Geſetz zu ändern oder zu übertreten oder aber das Bedürfniß dem Geſetz zu opfern. Wenn es uns bei der Schilderung der privatrechtlichen Verhält- niſſe vorzugsweiſe darum zu thun war zu zeigen, wie die Sitte beſchränkend auf die abſtracte Freiheit einwirkte, ſo kam es uns bei dem vorliegenden Gegenſtand umgekehrt darauf an, nachzuweiſen, wie die Sitte trotz ihres beſchränkenden Einfluſſes immer doch noch der Freiheit einen großen Spielraum ließ. Dort hat man nämlich ebenſo ſehr den Einfluß der Sitte zu gering, wie hier zu hoch angeſchlagen. Der Grund dieſer Ver- ſchiedenheit liegt in der Beſchaffenheit unſerer Quellen, näm- lich in der Dürftigkeit derſelben rückſichtlich des rein privat- rechtlichen, der Reichhaltigkeit derſelben rückſichtlich des öffent- lichen Lebens. Die Juriſten, die das Privatrecht behandelten, ſchloſſen das Element der Sitte mit vollem Recht von der Be- trachtung aus. Wer aber das römiſche Staatsrecht darzuſtellen hatte, konnte ſich nicht in gleicher Weiſe auf den abſtract-recht- lichen Geſichtspunkt beſchränken, ſondern mußte das geſammte öffentliche Leben zum Gegenſtand der Darſtellung machen. Kurz das Staatsrecht war Geſchichte und Statiſtik, das Privatrecht eine abſtracte Theorie. Für jenes beſteht die Auf- gabe darin, den Geſichtspunkt des abſtracten Rechts nicht über der Sitte — für dieſes, die Sitte nicht über dem abſtracten Recht zu überſehen. Wir haben jetzt die einzelnen objektiven Momente, die zur Charakteriſtik der Magiſtratur nöthig ſind, kennen lernen: die abſtract-rechtliche Freiheit auf der einen, das Maß und die Art ihrer Gebundenheit auf der andern Seite. Ein weſentliches Moment zu dieſer Charakteriſtik fehlt uns noch, es iſt das rein

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/311>, abgerufen am 23.11.2024.