Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. nichts übrig, als auf das Ende des Amtsjahrs und auf größereWillfährigkeit der Nachfolger zu hoffen. Die bisherigen Beispiele mögen genügen, um meine obige 456) Dies wird man in einem geringern Maße selbst vom Standpunkt
der bisherigen Auffassung aus uns zugeben müssen, denn das Gewohnheits- recht entsteht bekanntlich nicht über Nacht, sondern setzt einen längern Bil- dungsprozeß voraus. Man lasse sich durch die Festigkeit, Sicherheit, Be- stimmtheit, die dem fertig gewordenen Rechtssatz auch bei der gewohnheits- rechtlichen Entstehung zu Theil wird, nicht verleiten, den Mangel dieser Eigenschaften bei dem noch nicht Fertigen zu übersehen; zu vergessen, daß alles Sein ein Werden voraussetzt, und daß gerade beim Gewohn- heitsrecht die Periode des Werdens oft von sehr langer Dauer sein kann. Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. nichts übrig, als auf das Ende des Amtsjahrs und auf größereWillfährigkeit der Nachfolger zu hoffen. Die bisherigen Beiſpiele mögen genügen, um meine obige 456) Dies wird man in einem geringern Maße ſelbſt vom Standpunkt
der bisherigen Auffaſſung aus uns zugeben müſſen, denn das Gewohnheits- recht entſteht bekanntlich nicht über Nacht, ſondern ſetzt einen längern Bil- dungsprozeß voraus. Man laſſe ſich durch die Feſtigkeit, Sicherheit, Be- ſtimmtheit, die dem fertig gewordenen Rechtsſatz auch bei der gewohnheits- rechtlichen Entſtehung zu Theil wird, nicht verleiten, den Mangel dieſer Eigenſchaften bei dem noch nicht Fertigen zu überſehen; zu vergeſſen, daß alles Sein ein Werden vorausſetzt, und daß gerade beim Gewohn- heitsrecht die Periode des Werdens oft von ſehr langer Dauer ſein kann. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0310" n="296"/><fw place="top" type="header">Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Freiheitstrieb.</fw><lb/> nichts übrig, als auf das Ende des Amtsjahrs und auf größere<lb/> Willfährigkeit der Nachfolger zu hoffen.</p><lb/> <p>Die bisherigen Beiſpiele mögen genügen, um meine obige<lb/> Behauptung von der eigenthümlichen Kraft der ſtaatsrechtlichen<lb/> Sitte zu erläutern und zu beweiſen. Was ich aber <hi rendition="#g">nicht</hi> beweiſen<lb/> kann, iſt das <hi rendition="#g">quantitative</hi> Verhältniß der Sätze der ſtaats-<lb/> rechtlichen Sitte zu denen des Staats<hi rendition="#g">rechts</hi>; ein ſolcher Be-<lb/> weis wäre mit einer Darſtellung des geſammten römiſchen<lb/> Staatsrechts gleichbedeutend. In dieſer Beziehung muß ich<lb/> mich alſo auf das bloße Behaupten beſchränken, im übrigen<lb/> aber auf das Urtheil ſachkundiger Richter provociren. Meine<lb/> Behauptung geht nun dahin, daß der bei weitem größte Theil<lb/> der Normen, die im öffentlichen Leben der Römer zur Anwen-<lb/> dung kamen, nicht Staats<hi rendition="#g">recht</hi>, ſondern Staats <hi rendition="#g">ſitte</hi> geweſen.<lb/> Die ſtaatsrechtliche Subſtanz befand ſich in Rom, einige<lb/> wenige feſte Niederſchläge abgerechnet, ſtets im Zuſtande der<lb/> Flüſſigkeit. <note place="foot" n="456)">Dies wird man in einem geringern Maße ſelbſt vom Standpunkt<lb/> der bisherigen Auffaſſung aus uns zugeben müſſen, denn das Gewohnheits-<lb/> recht entſteht bekanntlich nicht über Nacht, ſondern ſetzt einen längern Bil-<lb/> dungsprozeß voraus. Man laſſe ſich durch die Feſtigkeit, Sicherheit, Be-<lb/> ſtimmtheit, die dem <hi rendition="#g">fertig</hi> gewordenen Rechtsſatz auch bei der gewohnheits-<lb/> rechtlichen Entſtehung zu Theil wird, nicht verleiten, den Mangel dieſer<lb/> Eigenſchaften bei dem noch <hi rendition="#g">nicht Fertigen</hi> zu überſehen; zu vergeſſen,<lb/> daß alles <hi rendition="#g">Sein</hi> ein <hi rendition="#g">Werden</hi> vorausſetzt, und daß gerade beim Gewohn-<lb/> heitsrecht die Periode des Werdens oft von ſehr langer Dauer ſein kann.</note> Dieſer Zuſtand machte es möglich, dem wechſeln-<lb/> den Bedürfniß der Zeiten gerecht zu werden, ohne ſtets erſt die Ge-<lb/> ſetzgebung zu Hülfe zu rufen, ſowie er es andererſeits dem Hiſto-<lb/> riker freilich unendlich erſchwert, der Bewegung zu folgen, jenes<lb/> faſt ununterbrochene Wachſen und Abnehmen, Ausdehnen und<lb/> Zuſammenziehen der verſchiedenen Gewalten, jenes Wogen,<lb/> Schieben und Stoßen der verſchiedenen Elemente zu ſchildern.<lb/> Dieſe Biegſamkeit der Sitte, dieſe rechtliche Möglichkeit, publi-<lb/> ciſtiſche Normen und Maximen in Fällen, wo ihre Anwendung<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [296/0310]
Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
nichts übrig, als auf das Ende des Amtsjahrs und auf größere
Willfährigkeit der Nachfolger zu hoffen.
Die bisherigen Beiſpiele mögen genügen, um meine obige
Behauptung von der eigenthümlichen Kraft der ſtaatsrechtlichen
Sitte zu erläutern und zu beweiſen. Was ich aber nicht beweiſen
kann, iſt das quantitative Verhältniß der Sätze der ſtaats-
rechtlichen Sitte zu denen des Staatsrechts; ein ſolcher Be-
weis wäre mit einer Darſtellung des geſammten römiſchen
Staatsrechts gleichbedeutend. In dieſer Beziehung muß ich
mich alſo auf das bloße Behaupten beſchränken, im übrigen
aber auf das Urtheil ſachkundiger Richter provociren. Meine
Behauptung geht nun dahin, daß der bei weitem größte Theil
der Normen, die im öffentlichen Leben der Römer zur Anwen-
dung kamen, nicht Staatsrecht, ſondern Staats ſitte geweſen.
Die ſtaatsrechtliche Subſtanz befand ſich in Rom, einige
wenige feſte Niederſchläge abgerechnet, ſtets im Zuſtande der
Flüſſigkeit. 456) Dieſer Zuſtand machte es möglich, dem wechſeln-
den Bedürfniß der Zeiten gerecht zu werden, ohne ſtets erſt die Ge-
ſetzgebung zu Hülfe zu rufen, ſowie er es andererſeits dem Hiſto-
riker freilich unendlich erſchwert, der Bewegung zu folgen, jenes
faſt ununterbrochene Wachſen und Abnehmen, Ausdehnen und
Zuſammenziehen der verſchiedenen Gewalten, jenes Wogen,
Schieben und Stoßen der verſchiedenen Elemente zu ſchildern.
Dieſe Biegſamkeit der Sitte, dieſe rechtliche Möglichkeit, publi-
ciſtiſche Normen und Maximen in Fällen, wo ihre Anwendung
456) Dies wird man in einem geringern Maße ſelbſt vom Standpunkt
der bisherigen Auffaſſung aus uns zugeben müſſen, denn das Gewohnheits-
recht entſteht bekanntlich nicht über Nacht, ſondern ſetzt einen längern Bil-
dungsprozeß voraus. Man laſſe ſich durch die Feſtigkeit, Sicherheit, Be-
ſtimmtheit, die dem fertig gewordenen Rechtsſatz auch bei der gewohnheits-
rechtlichen Entſtehung zu Theil wird, nicht verleiten, den Mangel dieſer
Eigenſchaften bei dem noch nicht Fertigen zu überſehen; zu vergeſſen,
daß alles Sein ein Werden vorausſetzt, und daß gerade beim Gewohn-
heitsrecht die Periode des Werdens oft von ſehr langer Dauer ſein kann.
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